Henning Neidhardt

Wie wird man eigentlich… Pianist?

Eine CD mit Songs von Größen wie Ella Fitzgerald und Louis Armstrong begründete die Leidenschaft für Jazz.

Musik oder Fußball? Als Teenager musste sich Henning Neidhardt zwischen zwei Hobbys entscheiden. Er hörte auf sein Herz, tauschte das Training gegen Klavierstunden und bewarb sich nach dem Abitur an einer renommierten Hochschule für Jazz-Piano. Heute tourt der gebürtige Bocholter mit Mentalmagier Timon Krause durch Deutschland, schreibt Musik für Filmtrailer, spielt Wohnzimmerkonzerte und hat soeben eine neue Single veröffentlicht. Allein mit Noten scheint das Stück „ETA (estimated time of arrival)“ seinen kurvenreichen Weg zum Berufsmusiker zu beschreiben. Ist er schon angekommen? Ein Gespräch über Jazz und Pop – und die Frage, was im Leben wirklich zählt.

Eine Altbauwohnung in der Innenstadt, an der Wand „The New Yorker“, die Einrichtung so, wie man es bei einem Musiker erwartet: Ein altes Klavier in der Küche, ein Synthesizer im Wohnzimmer, weiße Regale mit Schallplatten und Büchern. Letztere stehen originellerweise alle rückwärts zur Wand, sodass nur weiße Seiten zu sehen sind. „Das bringt mehr Ruhe hinein“, erklärt Henning Neidhardt mit einem zurückhaltenden Lächeln, während er uns ganz in schwarz gekleidet einen Espresso kocht. Der 31-jährige Wahlkrefelder wirkt trotz Wikipedia-Eintrag und diverser Auszeichnungen wie dem Steinway & Sons Förderpreis Jazz keineswegs arrogant, im Gegenteil: Er spricht unaufgeregt über eine behütete Kindheit mit Blockflöte und Fußballtraining, lässt schwierige Phasen und Selbstzweifel im Studium nicht aus und ist sichtbar begeistert, wenn zu einer Show mit Magier Timon Krause rund 2.500 Zuschauer in die Frankfurter Jahrhunderthalle kommen. „Inzwischen bin ich zwei Mal im Jahr mit Timon unterwegs, wir sind beste Freunde geworden“, beschreibt er bescheiden seinen Joballtag. „Vor zehn Jahren entwickelten wir erste Ideen für ein Showformat, das Mentalismus mit Musik verbindet. Nach dem Finale bei der niederländischen Fernsehshow Holland’s Got Talent folgte 2017 die Mindgames-Tournee mit zahlreichen nationalen und internationalen Auftritten. Als musikalischer Leiter komponiere und spiele ich den Live-Soundtrack zusammen mit Schlagzeuger Kevin Wolf.“

Selbst aufgenommene Soundschnipsel werden durch den Synthesizer gejagt.

Neben der kreativen Arbeit für die neue Show des Mentalmagiers ist der freiberufliche Pianist, Keyboarder und Komponist breit aufgestellt: Das Henning Neidhardt Trio mit den Studienfreunden Duy Luong und Karl-F. Degenhardt bewegt sich musikalisch frei zwischen Modern Jazz und experimentellen Klängen, mit seinem Kollegen Felix Waltz tritt er als LA CRUSH in Techno-Clubs auf, und sogar Flüge nach Los Angeles stünden regelmäßig an, erzählt Henning beiläufig. „Zusammen mit einem deutschen Hollywood-Komponisten schreibe ich Musik für Filmtrailer. Wir kreieren verrückte Sounds, das macht viel Spaß und hat Potenzial!“ Er versuche, ein gutes Gleichgewicht zu finden zwischen künstlerisch erfüllenden Projekten, kommerziellen Engagements und Auftritten in einem Einkaufszentrum. Dabei helfen ihm auch seine handverlesenen Klavierschüler aus Düsseldorf und Krefeld, die „richtig Bock haben“ und genau wie ihr Lehrer neugierig auf neue Erfahrungen sind. Denn die Kunst sei viel zu wertvoll, um sie in einer Musikschule an desinteressierte Kinder zu verschwenden, resümiert der vielseitige Künstler nachdenklich.

Aufgewachsen in einem musikalischen Haushalt sollte er selbst „ausgerechnet“ Flöte spielen lernen wie knapp 60.000 Musikanfänger pro Jahr auch. „Ich habe nicht gebrannt dafür“, gibt er schulterzuckend zu. Wegen seiner langen schlanken Finger wechselt der damals achtjährige Schüler bald das Instrument und bekommt Klavierstunden. „Meine Eltern freuten sich, aber ich fand es nicht so toll. Bis meine Lehrerin mir einen Boogie Woogie mitbrachte und ich das Stück innerhalb von wenigen Tagen beherrschte.“ Jetzt leuchten seine Augen. Nach Umwegen über die Popmusik – „Feel“ von Robbie Williams habe er wochenlang gespielt – landet er im Alter von zwölf Jahren zufällig beim Jazz. Der Schlüsselmoment: eine Fernsehwerbung für eine CD-Beilage mit Songs von Ella Fitzgerald bis Louis Armstrong. Seine Mutter holt die Scheibe aus ihrem Friseurgeschäft. „Dann habe ich zu Hause Papas Plattensammlung durchsucht und bin mit Frank Sinatra, Miles Davis oder Klaus Doldinger in Berührung gekommen. Ich fand die Musik gemütlich und trug sogar eine Haartolle wie Götz Alsmann!“ Es ist der Beginn einer Reise zu sich selbst: Mit diesem altersuntypischen Musikgeschmack steht er bei seinen Freunden eher allein da, das Fußballtraining lässt er immer häufiger ausfallen, und mit 16 weiß er: „Ich will Musik studieren.“ Mit Fleiß und Disziplin bereitet er sich parallel zu seiner Abiturphase auf die Aufnahmeprüfung vor, ergattert einen der begehrten Studienplätze im Studiengang Jazz – Performing Artist in Amsterdam – und fliegt nach einem Jahr von der Hochschule. Dabei hatte er 2010 schon Preise im Landeswettbewerb von Jugend musiziert abgeräumt. „Mein Ego lag am Boden“, analysiert Henning und führt sein Versagen auf Überforderung und für ihn ungeeignete Dozenten zurück. Ein erneutes Vorspielen führt ihn nach Enschede, wo ihm die nötige Zeit und Ruhe zugestanden wird, das Instrument und die Musiksprache des Jazz kennenzulernen. Nebenbei gibt er Konzerte, es läuft gut, doch dann wird die kleine Jazzabteilung geschlossen, und der angehende Pianist kann seinen Bachelor dort nicht ablegen. Trotz aufkommender Zweifel an der Sinnhaftigkeit seines Tuns rafft er sich zu einer dritten Aufnahmeprüfung auf, wird an der Folkwang Universität der Künste angenommen und spielt schließlich sein Abschlusskonzert mit der Note 1,0. Nicht, dass diese Zahl das Wichtigste sei, betont er. „In Essen konnte ich meinen musikalischen Horizont sowie mein Netzwerk weiter ausbauen: Ich habe Freejazz und Improvisation gelernt und großartige Lehrer getroffen“, freut er sich noch heute. „Thomas Rückert hat mir beispielsweise beigebracht, wie man mit Fehlern umgeht.“ Dass die beiden auch gemeinsam meditierten, passt zu ihm, dieser stille Mann strahlt eine tiefe Ruhe aus. Was man auch einem Teil seiner oft langsamen, fast meditativen Musikstücke anmerkt, die in den Bereich Ambient fallen: Hier dominieren sphärische, sanfte, langgezogene und warme Klänge, es gibt keinen Beat, aber ungewöhnliche „Soundschnipsel“, die Henning auf seinen Reisen durch Vietnam oder Los Angeles sammelt und später „durch den Synthesizer jagt“. In dieser Sparte fühlt er sich offensichtlich wohl, weil er sich musikalisch frei bewegen und neue Klänge spielen könne – das Ergebnis eines langen Lernprozesses, in dem er erst seinen eigenen Weg finden und manche Fesseln sprengen musste. So schlägt er lässig am Keyboard sitzend die ersten Töne von Beethovens „Für Elise“ an und gibt dem klassischen Stück nach nur wenigen Sekunden einen jazzigen Touch, indem er die Betonungen lässig verschiebt. Dem legendären Jazzmusiker Miles Davis wird ein Zitat zugeschrieben: „Es ist egal, ob du eine falsche Note gespielt hast. Es ist die nächste Note, die darüber entscheidet, ob es sich zum Guten oder zum Schlechten wendet.“ Selten hat es so gut gepasst wie heute.

Fotos: Felix Burandt
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