Sabrina Tophofen

„Jeder Tag ist eine neue Chance!“

Sabrina Tophofen hat schon als junges Mädchen viel Leid erfahren: Ihre Erfahrungen treiben sie heute an, Notleidenden zu helfen.

Ein aufgeschlagenes Knie, eine Fünf in der Klassenarbeit oder das falsche Geschenk zu Weihnachten – schlimmer wird es meistens nicht, wenn wir an die kleinen Dramen unserer behüteten Kindheit zurückdenken. Dass es Kinder gibt, die hungrig zur Schule gehen oder häusliche Gewalt erleben, dass Teenager mit Drogen aufwachsen oder Menschen auf der Straße leben, weil sie Job und Wohnung verloren haben – das ist für viele kaum vorstellbar. Blicken wir auf die unangenehmen Seiten und beklagen uns über Betteln in der Innenstadt? Oder zeigen wir Mitgefühl, bieten Hilfe an und unterstützen Anlaufstellen für Bedürftige? Die Wahlkrefelderin Sabrina Tophofen hat sich für die Option Anpacken entschieden und den Verein „Dein Name ist Mensch“ gegründet. Nach einigen Hürden in ihrem Leben betreibt die Gesundheitspflegerin und Buchautorin ehrenamtlich ein Begegnungscafé an der Marktstraße. Denn was Menschen in Not wirklich brauchen, weiß sie genau: Sie war selbst ein Straßenkind.

„Wer nur eine Seele rettet, rettet die ganze Welt.“ Dieses Zitat steht nicht nur auf der Visitenkarte, die uns Sabrina Tophofen an diesem Morgen überreicht, es ist in tiefem Schwarz auch auf ihren Hals tätowiert. Überhaupt gibt es hier heute viel zu lesen: Tattoos auf ihren Händen drehen sich um Musik, Liebe und Tanz, die Baseballmütze ist mit „Jesus Warrior“ bestickt und auf den weiß gestrichenen Wänden des Cafés finden sich Worte wie „Respekt“, „Hoffnung“ oder „Glaube“. Bei Kaffee und Tee, flink serviert von Claudia und Theo, erklärt uns die 42-Jährige, dass ihr Lebensmotto an die Romanverfilmung „Schindlers Liste“ angelehnt sei. Oskar Schindler rettete rund 1.200 Juden vor den Nazis, seine Arbeiter fertigten zum Dank einen Ring aus Zahngold für ihn an – mit einer Gravur aus dem Talmud: „Wer nur ein Leben rettet, rettet die ganze Welt.“

Tophofens Lebensmotto: „Wer nur eine einzige Seele rettet, rettet die ganze Welt.“

Nun würde Tophofen nie auf die Idee kommen, sich auf eine Stufe mit jemandem wie Schindler stellen zu wollen. Schon wie ihr Team sie mit Getränken umsorge, sei ihr eher unangenehm, gibt die bescheidene Betreiberin schulterzuckend zu: „Ich kann das doch selbst.“ Dass Stars wie Schauspieler Ralf Möller oder Fotograf Jim Rakete ihre gemeinnützige Arbeit unterstützen, erwähnt sie erst gar nicht, wir erfahren es aus Presseberichten. Und für den Eintrag bei Wikipedia hat sie nur ein entschuldigendes Lächeln übrig. Wer ist diese zierliche wie starke Frau, die im hellgrauen Kapuzenpulli, mit blütenweißen Jeans und frechem Kurzhaarschnitt vor uns sitzt und mit leichtem Kölner Akzent spricht?

Die WELT schreibt über ihre Kindheit: „Als Sabrina Tophofen mit ihren Eltern nach Duisburg zieht, beginnt für sie ein neues Leben. Die Gegend ist schön und die neue Wohnung auch. Doch bald ist für das Mädchen klar: Aus dem hübschen Häuschen wird ein Horrorhaus. Denn kurz nach dem Umzug beginnt der Vater damit, Tophofen und ihre Geschwister sexuell zu missbrauchen.“ Ihre Mutter hätte dies „einfach hingenommen“, sagt sie mit rauer Stimme und festem Blick. So sei ihr damals nur geblieben, immer wieder von zu Hause auszureißen. Nach einiger Zeit in verschiedenen Kinderheimen landet die 11-jährige Sinti als „Deutschlands jüngstes Straßenkind“ auf der Kölner Domplatte. Streetworker werden auf sie aufmerksam und holen sie regelmäßig von der Straße: „Ich kenne jedes Hotel in Köln, das nicht gerade fünf Sterne hat“, berichtet Tophofen mit einem breiten Grinsen. „Aber es gab oft Ärger, weil ich nie alleine in meinem Zimmer schlief, sondern regelmäßig den halben Bahnhof mitbrachte. Es war für mich selbstverständlich, das Zimmer mit all meinen obdachlosen Freunden zu teilen. In einem Hotel mit Blick auf den Rhein hatte ich sogar einen Tresor. Den wollte ich stolz einer Freundin zeigen und schleppte ihn ans Fenster, Besuch war ja nicht erlaubt. Leider fiel mir der Kasten aus den Händen – und ich flog wieder raus.“ Der Schulbesuch sei in dieser Phase übrigens sehr kurz gekommen, bemerkt sie trocken und lacht.

Sabrina und ihre Tochter Gabrielle.

Es sind Anekdoten wie diese, die erahnen lassen, warum sie sich so stark für Straßenkinder, Missbrauchsopfer, Obdachlose und Menschen in Not einsetzt: „Mein Hauptfokus liegt auf der Jugendarbeit, damit ihnen das erspart bleibt, was ich erlebt habe. Ich wünsche mir vor allem, dass der Staat deutlich mehr Geld in Bildung investiert, dass Geld fließt in Kitas, Schulen und Sportvereine, damit Kinder durch Erfolgserlebnisse wachsen können. Kostenlose Mahlzeiten für Kinder könnten zudem mehr Gemeinschaft entstehen lassen.“ In ihrem Begegnungscafé, das versteckt in einem Hinterhof an der Marktstraße 59a liegt, seien alle willkommen, die einen Ort zum Aufwärmen, eine Mahlzeit oder ein freundliches Lächeln bräuchten. Auch Beratungsgespräche, Ämterbegleitung und Vermittlungen in Drogenberatungsstellen gehören zum Angebot. „Anfangs habe ich mich mit alkoholisierten Männern schwer getan, da sie mich an meinen Vater erinnerten und bei mir eine Art Verteidigungsmodus auslösten. Doch mittlerweile kann ich mit meinen Gefühlen umgehen, und Alkohol ist bei uns sowieso tabu“, betont die Vorsitzende des Vereins „Dein Name ist Mensch“.

Das Café gleichen Namens ist an 365 Tagen im Jahr geöffnet und wird allein durch Geld- und Sachspenden von Privatpersonen und Unternehmen finanziert. Unter der Woche gibt ein Team von Ehrenamtlern abends Backwaren aus, und jeden Sonntag fährt Tophofen nach Nettetal, um auf der Golfanlage Haus Bey frisch gekochtes Essen für ihre Gäste abzuholen. Nur wenn der Dienstplan ihres Arbeitgebers es erfordere, lasse sie sich vertreten, ansonsten finde man sie zu „90 Prozent“ täglich vor Ort. Woher nimmt diese kleine Person die Energie, unzählige Aufgaben unter einen Hut zu bringen: Jobs, fünf Kinder, drei Hunde und die Vereinsarbeit? „Ich bin sehr gläubig, aber nicht religiös, und ich lese viel, das gibt mir Kraft“, lächelt Tophofen. Auch der Film „Die Hütte – Ein Wochenende mit Gott“, den sie vor zwei Jahren zufällig bei Netflix fand, habe ihr eine neue Sichtweise auf ihre Familie vermittelt – so konnte sie ihrem Vater endlich verzeihen, Kontakt zu ihrem Bruder aufnehmen und Frieden schließen mit ihrer Herkunft. „Heute bin ich stolz, eine Sinti zu sein. In jeder Kultur gibt es Menschen, die gut oder böse sind, und nicht alle sind faul!“ Sie ballt eine Faust und entspannt sich schnell wieder.

Bei ihrer Arbeit wird Sabrina von ehrenamtlichen Helfern unterstützt, die früher selbst obdachlos waren.

Faulheit ist sowieso das Letzte, was man der Aktivistin vorwerfen könnte, denn sie boxt sich durch im Leben, trotz massiver Herausforderungen. Im Alter von 16 Jahren wird sie von ihrem ersten Freund schwanger, ein zweites Kind folgt. Die Beziehung beschreibt Tophofen mit knappen Worten als „nicht so toll und von Gewalt geprägt“. Mit 22 Jahren lernt sie ihren jetzigen Mann kennen, und diese Begegnung markiert einen Wendepunkt: „Ich wollte arbeiten gehen, fand über die Agentur aber keinen Job, weil überall ein Schulabschluss gefordert wurde. Also startete ich komplett neu, brachte meine Kinder quer durch Köln zur Tagesmutter, ging in die Schule und büffelte Matheformeln.“ Dass eine Dozentin behauptete, sie würde das „mit zwei Kindern niemals schaffen“, habe sie nur noch mehr angespornt. Sie springt auf: „Als ich meine erste Eins in Mathe bekam, knutschte ich die Klassenarbeit. Es bedeutete mir unglaublich viel!“ Hauptschulabschluss, Mittlere Reife, Fachabitur – Tophofen tritt mit erstaunlicher Kraft und Beharrlichkeit den Beweis an, dass mit Durchhaltevermögen und Unterstützung im Grunde alles möglich ist. Ihren Ausbildungsberuf als Gesundheitspflegerin übt sie bis heute aus. „Die Misshandlungen, die Gewalt und das Elend meiner Kindheit werden für immer ein Teil von mir sein. Doch sie haben mich nicht zerstört. Ich bin stark genug, um anderen zu helfen. Jeder Tag ist eine neue Chance!“

Zierlich, aber enorm stark.

Als Tophofen Ende 2017 nach Krefeld zieht, wendet sie sich nach Jahren der Jugendarbeit auch den Erwachsenen zu. Die Vorweihnachtszeit mit Glühwein und Kakao solle auch für Menschen ohne Wohnsitz „etwas Besonderes“ sein, und so backt sie spontan mit ihren Kindern gut 2.000 Kekse und Brot, sammelt Kleiderspenden und verteilt sie auf dem Südwall. Jeden Mittwoch und Freitag versorgt sie wohnungslose Männer und Frauen auf dem Lutherplatz mit einer Mahlzeit. Doch sie nimmt auch wahr, dass sich die Bedürftigen nicht immer korrekt benehmen und für Unmut sorgen. „Anwohner fühlen sich gestört von den häufig betrunkenen Obdachlosen, die auch nicht selten in Streit geraten. Direkt am Lutherplatz befindet sich eine Kita, die Eltern machen sich Sorgen. Ich verstehe das. Eine schlechte Kindheit ist keine Entschuldigung für schlechtes Verhalten. Doch hier sind Lösungen für die Menschen gefragt.“ Wer beispielsweise nach einem Drogenentzug als „clean“ entlassen werde, stehe schnell wieder auf der Straße, wenn es an Therapieplätzen fehle. Daher sei sie auch ein großer Freund des Housing-First-Konzepts, bei dem Menschen zuerst eine eigene Wohnung erhalten sollen, bevor sie ihre anderen Probleme angehen.

Ihre Erlebnisse hat Tophofen in zwei Büchern verarbeitet. In „Solange bin ich vogelfrei”, gemeinsam geschrieben mit der Journalistin Veronica Vattrodt, geht es um ihr Leben als Straßenkind. „Lebenslänglich: Psst… Wenn nachts der Papa kommt” hat den Missbrauch zum Inhalt und sei ihr besonders wichtig. In einem Interview hob sie vor drei Jahren hervor: „Während missbrauchte Kinder sich ihr Leben lang mit den Folgen quälen, bekommen die Täter häufig nur eine Bewährungsstrafe. Das muss sich ändern.“ Doch die Mühlen der Justiz mahlen langsam: Erst seit Mai 2021 ist der Missbrauch von Kindern in Deutschland ein Verbrechen – zuvor hatte es sich nur um ein Vergehen gehandelt. Für heute konzentrieren wir uns darauf, welche kleinen Wünsche sich für die selbst ernannte Menschenfischerin erfüllen sollen: „Unser privater Verein freut sich über Geld für Miete, Strom und Gas genauso wie über haltbare Lebensmittel, brauchbare Winterkleidung oder Schlafsäcke. Wir sind sehr dankbar, dass die Menschen hier mit vollem Herzen dabei sind und uns auch mit Kleinigkeiten unterstützen.“

Niemand außer Gott könne über andere urteilen, heißt es in einer Schlüsselszene im Film „Die Hütte“. Aber wir können uns jeden Tag neu entscheiden, was für ein Mensch wir sein wollen. Das Beispiel von Sabrina Tophofen zeigt, dass es auch unter schwierigsten Bedingungen möglich ist, sein Leben zu ändern. Vielleicht beginnen wir einfach bei uns selbst und kaufen beim nächsten Stadtbummel eine Obdachlosenzeitung. Damit ein Mensch in Not eine neue Chance bekommt.

Dein Name ist Mensch e.V.
IBAN DE47 3546 1106 8524 0580 15

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1 Kommentar

  1. […] Geschichten in den Mittelpunkt unserer Ausgabe gestellt, die von genau solchen Menschen erzählen: Sabrina Tophofen hat schon als Kind viel Leid erfahren und einen bewegten Lebensweg hinter sich. Sie hat es – mit […]

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