„Life is too short to be average“ steht in Großbuchstaben auf dem T-Shirt in knalligem Pink, das Rahel Plass trägt. „Das Leben ist zu kurz, um durchschnittlich zu sein“: Für die Krefelderin, die es nach dem abgeschlossenen Jurastudium bis zur Staatsanwältin geschafft hat – ein Amt, das sie seit nunmehr elf Jahren ausfüllt – ist das viel mehr als nur ein cooler Spruch. Rahel ist, was ihre Karriere angeht, nicht den leichtesten Weg gegangen. Und als wäre das nicht genug, hat ihr auch das Leben nicht nur den ein oder anderen Stock, sondern gleich ganze Kanthölzer zwischen die Beine geworfen. Rahel hat sich davon nicht beeindrucken lassen, im Gegenteil. Sie hat jede Herausforderung angenommen – und gemeistert. Die Frage, die sich unweigerlich stellt: Was kann ein Mensch leisten – und ertragen?
Die Geburt ihrer zweiten Tochter Katharina im Jahr 2012 sollte ein Glückstag werden. Doch es kam anders: Das Mädchen musste mit Kaiserschnitt geholt werden und war komplett in die Nabelschnur eingeschlungen. Erst nach acht bangen Minuten der künstlichen Beatmung machte es seinen ersten eigenen Atemzug. Als Rahel ihr Kind endlich in die Arme schließen durfte, hatte es einen Tag unter Beobachtung auf der Intensivstation verbracht. Doch die Erleichterung dauerte nicht lang an. „Wir merkten zu Hause relativ schnell, dass mit Katharina etwas nicht stimmte“, erinnert sich Rahel. „Sie war extrem unruhig, rollte sich ständig von einer Seite zur anderen. Auf unsere Fragen bekamen wir immer nur die Antwort, dass wir dem Kind Zeit geben sollten. Doch als ich in einer PEKIP-Gruppe den Entwicklungsstand Katharinas mit dem anderer Kinder in ihrem Alter vergleichen konnte, traten die Unterschiede sehr deutlich hervor.“ Der Besuch bei Osteopathen und Physiotherapeuten brachte zunächst lediglich die Erkenntnis, dass Katharina eine überdurchschnittlich hohe Körperspannung zeigte. „Das Wort ,Behinderung‘ wollte da aber noch niemand in den Mund nehmen“, blickt die Krefelderin zurück. Als sie und ihr Ehemann Oliver nach acht Monaten voller unbeantworteter Fragen schließlich einen medizinisch fundierten Bericht in den Händen hielten, war das ein Schock. „Wir wussten zwar, das Katharina in ihrer Entwicklung stark rückständig war, aber das volle Ausmaß ihrer körperlichen und geistigen Defizite in Schwarz auf Weiß zu sehen, war wie ein Schlag ins Gesicht.“ Die Diagnose lautete Cerebral-Parese, eine Schädigung des Hirns, in Verbindung mit einer sogenannten Tetraspastik, die alle vier Gliedmaßen sowie das Gesicht betrifft. Zu diesem Zeitpunkt wollte kein Mediziner eine Prognose darüber geben, ob das Mädchen überhaupt jemals dazu in der Lage sein würde, auch nur allein zu sitzen, geschweige denn zu sprechen. „Es ist möglich, dass die Sauerstoff-Unterversorgung bei ihrer Geburt die Ursache war. Wir sind dem aber nie nachgegangen. Es hätte ja nichts geändert. Und wenn die Ärzte nicht so entschlossen gehandelt hätten, wäre Katharina erstickt“, rekapituliert Rahel nüchtern, sachlich und ohne jeden Vorwurf.
Mit der Gewissheit über Katharinas Behinderung beginnt für Familie Plass ein neues Leben. Es geht nun darum, die bestmögliche Betreuung für das Mädchen zu finden und es so gut es geht zu fördern – immer neben der anspruchsvollen Vollzeitbeschäftigung in der Staatsanwaltschaft. Beim HPZ finden die Eltern genau das, was sie suchen. Für Katharina ist es der Startschuss für eine beeindruckende Entwicklung. Mit einem Jahr krabbelt sie zum ersten Mal, ein unglaublicher Meilenstein. Mit zwei Jahren lernt sie laufen und spricht ihre ersten Worte. Eine Erlösung für die Eltern. „Unser Glück war, dass wir nie locker gelassen und uns nie mit Vertröstungen zufrieden gegeben haben“, ist Rahel überzeugt. „Seit Katharina fünf Monate alt ist, haben wir uns um ihre Förderung gekümmert. Davon profitiert sie heute, denn gerade bei Säuglingen und Babys kommt es auf jede Woche, jeden Monat an. Und wir haben dem HPZ unendlich viel zu verdanken. Der Kindergarten ist das Paradies auf Erden und die dort niedergelassene Ärztin war die erste, die wirklich Tacheles mit uns geredet hat.“ Hinzu kommt, dass sich die kleine Katharina als echte Kämpfernatur entpuppt: „Sie ist früher unglaublich oft gestürzt, auch schwer gestürzt. Ich war so oft mit ihr in der Notfallambulanz, um Platzwunden behandeln zu lassen, dass ich insgeheim immer damit gerechnet habe, dass irgendwann das Jugendamt an der Tür klingelt“, lacht die 46-Jährige. „Aber Katharina hat nie aufgegeben, sich von diesen Rückschlägen nie unterkriegen lassen. Ihre Leidensfähigkeit und ihr Wille sind beindruckend.“ Mehrere Tage lang übt das Mädchen unermüdlich, bis es selbstständig die zwei Stufen zur Sofaecke herunterklettern kann, die für sie bis dahin unüberwindbar waren. Mit acht Jahren dreht es seine erste Runde auf dem Fahrrad – ohne Stützräder. Seit dem siebten Lebensjahr geht Katharina auf die Friedrich-von-Bodelschwingh-Schule für geistig behinderte Kinder. Ihr IQ beträgt 58, sie ist zudem stark sehbehindert. Wenn sie müde, hungrig oder unzufrieden ist, wird sie schnell aggressiv und schimpft dann mitunter lautstark. Das kleine, zierliche Mädchen mit der großen Brille kann dann tatsächlich ziemlich respekteinflößend werden, wie ich selbst feststellen darf. „Katharina ist unser Überraschungsei“, schmunzelt die Juristin. „Wir wissen nicht, was noch alles in ihr steckt. Und wir sind dankbar über jeden kleinen Fortschritt, denn er zeigt uns, dass sie das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht hat.“ Die Hoffnung der Eltern ist es, dass Katharina vielleicht irgendwann in einer Art betreuter Wohngemeinschaft leben kann, mit einem größtmöglichen Maß an Selbstständigkeit, aber sicher ist das nicht. „Ich habe durch meine Tochter gelernt, stärker im Hier und Jetzt zu leben, dankbar zu sein, für das, was wir haben. Denn es kann ganz schnell zu Ende sein.“
An einem Freitag im Juni 2019 wacht Rahel morgens mit einem Spannungsgefühl in der linken Brust auf. Die Röntgenaufnahme zeigt einen dunklen, stark durchbluteten Schatten. Für die Staatsanwältin ist sofort klar, was auf sie zukommt. Insgesamt finden die Ärzte zehn Tumore, eine Teilresektion ist nicht möglich, die Brustdrüse muss entfernt werden. Am Dienstag nach der Diagnose geht Rahel wie gewohnt zur Arbeit. Sie arbeitet an einem Verfahren, bei dem sich ein Heilberufler vor Gericht für die fahrlässige Tötung mehrerer Krebspatienten verantworten muss. „Meine Freunde verstanden nicht, wie ich mich so kurz nach meiner Diagnose auch noch beruflich mit dem Thema auseinandersetzen konnte. Doch mir hat es geholfen, mich abzulenken“, erklärt sie. Überhaupt stellt man sich die Frage, wie sie die Dreifachbelastung aus dem enorm fordernden Beruf der Staatsanwältin, der Fürsorge für ein behindertes Kind und schließlich der eigenen Krankheit über so viele Jahre meistern konnte, ohne zusammenzubrechen. „Es gab natürlich auch Krisen und Zeiten, in denen ich kurz vor dem Burn-out stand“, gesteht die zweifache Mutter, „aber ich glaube, dass mir die unterschiedliche Art der Aufgaben auch dabei geholfen hat, immer wieder Kraft zu tanken. Zu Hause bin ich vor allem sozial und emotional gefordert. Bei meiner Arbeit kommt es eher auf meine geistig-intellektuellen Fähigkeiten an. Und ich liebe meinen Beruf. In einer Verhandlung zu taktieren, sehr spontan auf die Kniffe der Gegenseite reagieren zu müssen, zu spüren, dass die eigene Strategie aufgeht, das ist enorm spannend und befriedigend.“
Rahel begrüßt mich ganz entspannt, barfüßig in T-Shirt und Jeans. Nicht unbedingt der Look, den man mit einer Staatsanwältin assoziiert. Auf dem Weg ins Wohnzimmer entschuldigt sie sich für den Wäschehaufen vor der Küche, Kollateralschaden eines Haushalts mit zwei jungen Mädchen, aber unangenehm ist ihr das nicht: Es beschäftigt sie nicht, was andere Menschen von ihr denken. Der Pragmatismus, der sie auszeichnet, resultiert aus den vielen Rückschlägen, die sie mit ihrer Familie erlebt hat, aber auch aus den Enttäuschungen mit vermeintlichen Freunden und Bekannten. „Wir passen als Eltern eines behinderten Kindes nicht in die Lebensentwürfe anderer Familien. Wir sind ein Störfaktor. Im Restaurant werden wir komisch angeschaut, wenn Katharina einen ihrer Wutanfälle bekommt. Und bei gemeinsamen Unternehmungen bedarf es meistens eines Kompromisses, weil sie nicht so belastbar ist. Da haben viele keine Lust drauf.“ Während unseres langen Gesprächs mischt sich nur einmal so etwas wie Traurigkeit in Rahels Stimme, als sie über die Einsamkeit ihrer Tochter spricht: „Katharina hat vor allem imaginäre Freunde. Sie mit anderen behinderten Kindern zusammenzubringen, ist schwierig, weil diese Kinder alle sehr unterschiedlich sind. Gesunde Kinder haben schnell genug von ihr, weil Katharina zugegeben nicht immer einfach ist. Mit jüngeren kommt sie ganz gut zurecht, aber die holen sie kognitiv irgendwann ein, was frustrierend für sie ist. Es gibt außer uns niemanden, der dauerhaft für sie da ist.“
Die größte Furcht, die Rahel plagt – vermutlich wie jede Mutter in dieser Situation – ist es, ihr schutzbedürftiges Kind irgendwann allein lassen zu müssen. Und diese Angst hat mit ihrer Krebserkrankung vor wenigen Jahren sehr konkrete Formen angenommen. „Ich habe keine Zukunft mehr“, sagt sie und grinst mich dabei fast provokativ an. Als sie meine Sprachlosigkeit bemerkt, kommt sie mir mit einer Erklärung zuvor: „Ich mache keine Pläne mehr für morgen und übermorgen und nächste Woche. Und ich verschwende keine Gedanken mehr an Dinge, die unwichtig sind. So habe ich durch meine Erkrankung aber auch ein neues Zeitgefühl und eine neue Freiheit gewonnen. Meine Tage sind wieder länger, seitdem ich nicht mehr daran denke, was ich morgen machen muss.“ Mein eigenes Zeitgefühl hat sich während des Besuchs bei Rahel ebenfalls kurzzeitig verschoben. Die zwei Stunden, die wir uns unterhalten haben, sind wie im Flug vergangen. Mit einem Lächeln schwinge ich mich aufs Fahrrad und fahre nach Hause, zurück in mein eigenes Leben. „Life is too short to be average“: Katharina und Rahel können sehr glücklich darüber sein, sich zu haben.