60 Jahre Judo bei Bayer

Mit Teamgeist auf dem sanften Weg

Im Film „Asterix erobert Rom“ besiegt der kleine Gallier den Teutonen Bombastik mit einer List: Er fragt den Judoka nach seiner Kampftechnik und legt ihn dann erfolgreich aufs Kreuz. Tatsächlich entstand die japanische Kampfsportart Judo erst im 19. Jahrhundert, und noch heute lautet ihr Prinzip: „Siegen durch Nachgeben“. Dem Comiclesealter sind zwei Drittel der Judoka des SC Bayer zwar schon entwachsen, aber ihre Begeisterung für diese Mischung aus Sportart, Kampfkunst und Lebensphilosophie ist auch 60 Jahre nach Gründung der Abteilung ungebrochen, wie das Training der Erwachsenen in Uerdingen beweist.

In der Bayer Sporthalle am Löschenhofweg ist an diesem Montagabend nur wenig los, doch der kleine Budoraum für Kampfsportarten ist gut besucht. Heute leitet die 42-jährige Birgit Mannel das Judotraining. Sie beginnt mit einer mentalen Übung, die im Grunde jede asiatische Sporteinheit einläutet und auch wieder abschließt. 15 überwiegend grauhaarige Männer in weißen und blauen Baumwollanzügen stellen sich barfuß am Mattenrand auf. Die Reihe ist nach den Farben ihrer Gürtel geordnet: Ganz links stehen die schwarz gegurteten Träger eines Dans, dann folgen die sogenannten Kyu-Grade von Braun bis Weiß. Die Trainerin steht der Gruppe ruhig gegenüber. Was nun abläuft, funktioniert automatisch und fast ohne Worte. Die Atmosphäre wird spürbar konzentrierter, ganz im Gegensatz zum vorherigen Begrüßungsgewusel mit viel Gelächter.

Birgit Mannel ist eine der Trainerinnen.

Als „Sensei“, was auf Japanisch „Lehrer“ heißt, kniet Birgit sich nun hin, und einer nach dem anderen begibt sich in den traditionellen Fersensitz. Peter, der erste Judoka in der Reihe, verkündet „Mokuso“, worauf alle ganz still sitzen, die Augen schließen und sich geistig auf das bevorstehende Training einstellen. Nach dem Kommando „Rei“ ist die Konzentrationsphase beendet und die Sportler verneigen sich. „Jetzt geht es richtig los mit Aufwärmen, Technik und Wettkampftraining“, flüstert Abteilungsleiter Robert Zimmermann am Hallenrand. „Auch wenn es vom Alter her ein wenig nach Seniorensport aussieht, befindet sich sehr viel Judoerfahrung auf der Matte. Und diese Judoka wollen sportlich alle noch richtig Gas geben.“

So besitzen gleich mehrere der Anwesenden den 5. Dan im Judo, und auch der zweifache Deutsche Meister Rüdiger Vaegs trainiert in der Gruppe mit. Auf ihn sei der Verein „besonders stolz“, sagt Robert. Denn der drahtige 63-jährige nimmt mit einem Kampfgewicht von 66 Kilogramm regelmäßig an nationalen und internationalen Ü30- Meisterschaften teil und absolvierte in den letzten zehn Jahren rund 600 Kämpfe für den SC Bayer. Zudem leitet Rüdiger das Training für Kinder und Jugendliche. Während der Verein nach eigenen Angaben über eine „ungewöhnlich große“ Gruppe erwachsener Judoka verfügt, hat sich die Nachwuchsarbeit nicht nur durch die Pandemie und lange Lockdowns für den Kontaktsport deutlich verändert. „Kinder und Jugendliche sind heute länger in der Schule, sodass frühe Trainingszeiten am Nachmittag nicht mehr funktionieren“, stellt Trainer Robert fest. Dazu kämen eine hohe Erwartungshaltung von Eltern, fehlende motorische Fähigkeiten bei den Kleinsten und eine starke Konkurrenz von Trendsportarten wie Parkour oder Slacklining. „Als ich 1982 mit Judo angefangen habe, wollten meine Eltern mir eine ganzkörperliche Ertüchtigung ermöglichen und die Entwicklung von Selbstvertrauen fördern“, berichtet der 52-Jährige aus seiner Kindheit. „Doch heute soll das Judotraining erreichen, was zu Hause und in der Schule versäumt wurde, beispielsweise das Erlernen von Respekt, Ruhe und Konzentration, aber auch Fertigkeiten wie Purzelbaum, Körperspannung oder Gleichgewicht.“

Judo bedeutet wörtlich übersetzt zwar „der sanfte Weg”, doch ohne Blessuren verlässt kaum einer das Training.
„Die Kunst, Klamotten zu falten, in denen noch Menschen stecken”, beherrschen die Judoka des SC Bayer in Perfektion.

Judo ist dabei mehr als Kampfsport und Selbstverteidigung, denn die philosophischen Grundlagen zur Persönlichkeitsentwicklung werden auch außerhalb der Trainingshalle praktiziert. Die Sportart entstand 1880 in Japan auf der Basis traditioneller Kampfkünste. Begründer Jigoro Kano verfolgte das Ziel, verschiedenste Kampftechniken in einem System zu vereinen, bei dem neben dem sportlichen Zweikampf nach festen Regeln auch die körperliche und geistige Entwicklung des Einzelnen im Mittelpunkt stehen. Judo im Deutschen Judo-Bund vermittelt daher noch heute wichtige Werte wie Freundschaft, Ehrlichkeit, Wertschätzung, Mut, Respekt, Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit, Höflichkeit oder Selbstbeherrschung.

Wörtlich übersetzt bedeutet Judo „der sanfte Weg“ und wird mit einem Augenzwinkern auch als „die Kunst, Klamotten zu falten, in denen noch Leute stecken“ bezeichnet. Vereine wie der SC Bayer bieten Judo bereits für Kinder ab sechs Jahren an, aber auch Judoka über 80 Jahre sind keine Seltenheit. An der Gürtelfarbe lässt sich der Ausbildungsstand eines Judoka erkennen: Es gibt Schülergrade (Kyu) und Meistergrade (Dan). Laut Wikipedia wird Judo in über 150 Ländern ausgeübt und ist seit 1964 olympische Disziplin. Außer in Japan ist dieser Sport vor allem in Frankreich, den Niederlanden und vielen osteuropäischen Staaten beliebt. Das langjährige Vereinsmitglied Claus-Peter schwärmt: „Mit einem Judoanzug im Gepäck ist man in jedem Dojo der Welt ein gern gesehener Gast und Trainingspartner auf der Matte.“

Mittlerweile ist das Training in vollem Gange, und die Geräuschkulisse hat deutlich zugenommen. Auf knappe Erklärungen von Übungsleiterin Birgit folgen verschiedene Wurf- und Falltechniken, dass es auf der Matte nur so knallt. Vor allem bei der Flugrollenübung fällt die Landung je nach Körpergewicht doch etwas lauter aus, was Judoka Markus lässig kommentiert: „Beim nächsten Mal müssen wir wohl zwei Matten austauschen.“ Es ist nicht nur die körperliche Beanspruchung, die für viele den Reiz dieser Sportart ausmacht, auch der Teamgeist scheint eine große Rolle zu spielen, wie man an den fröhlichen Gesichtern ablesen kann. Schließlich sind hier viele Büromenschen vom Chefcontroller bis zum Banker oder Chemiker versammelt, die nach dem Sport mit diversen Schrammen und blauen Flecken trotzdem glücklich nach Hause gehen. „Wie erklärt man, dass Auspowern und Kämpfe einfach geil sind?“, fragt Robert rhetorisch und zeigt seine Blessuren von heute.

Zwischen zwei Würfen erzählt er noch schnell die Anekdote von einem britischen Soldaten, der 1962 an einem Leichtathletiktraining des SC Bayer teilnahm und sich mit Judounterricht revanchierte, weil er einen schwarzen Gürtel besaß. Auch wenn sich niemand mehr an seinen Namen erinnern kann, wird der Verein in diesem Jahr das 60-jährige Bestehen der Judoabteilung feiern. Für die Zukunft wünscht sich Robert mehr ehrenamtliche Trainer im Jugendbereich und etwas mehr Platz für die Erwachsenen. „Denn es könnte eng werden im Budoraum, falls alle 42 Männer und Frauen gleichzeitig trainieren wollen“, schmunzelt der Familienvater. Er geht noch mal auf die Matte, wieder sind die Kommandos „Mokuso“ und „Rei“ zu hören. Das heutige Training endet mit Applaus und einer gemeinsamen alkoholfreien Runde an der Bar. Am Mittwoch geht es schon weiter für die laut WhatsApp „beste Judotruppe wo gibt“. Sie ist offensichtlich auf dem richtigen Weg, wenn auch nicht unbedingt nach Rom.

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