KSV Germania Krefeld 1891 e.V.

Der Herr der Ringer

Jochen Haeffner: Mit seinem Engagement ist er für den KSV Germania weit mehr als nur ein Trainer.

Raufen mit Regeln, Kampfsport mit Köpfchen, populär in Osteuropa, in der Türkei, in Nahost, Nordafrika und in den USA, berühmte Vertreter sind der Mathematiker Pythagoras und die Olympiasiegerin Aline Rotter-Focken – in der Quizshow „Jeopardy“ könnten so die Antworten auf die Frage „Was ist Ringen?“ lauten. Im KSV Germania Krefeld 1891 e.V. werfen sich täglich rund 450 Mitglieder aus gut 30 Nationen auf die Matte – ohne Vorurteile, aber mit viel Respekt und Sinn für Gemeinschaft. Warum die Turnhalle an der Steinstraße ein Leuchtturmprojekt für die City sein kann, erklärte uns der 2. Vorsitzende und Jugendtrainer Jochen Haeffner.

Erik van Berkum ist seit 2019 Trainer bei Germania.

Ein muskelbepackter Germane mit Vollbart und Wikingerhelm prangt auf der Graffitiwand im Hinterhof und weist den Weg zur Halle des „besten Ringervereins in NRW“, wie die Facebookseite selbstbewusst verkündet. Das große Ego ist durchaus berechtigt, denn im Januar sind die Ringer des KSV Germania in die 2. Bundesliga aufgestiegen. „Die Rückkehr nach 15 Jahren ist vor allem die Frucht der hervorragenden Jugendarbeit“, blickt Jochen Haeffner stolz auf die überwiegend eigenen Talente, die das erfahrene Trainerteam in Krefeld ausgebildet hat. „Vier- bis fünfmal pro Woche trainieren sie hart, sie wollten den Aufstieg, und wir haben den Traum sehr gern und nach Kräften unterstützt.“ Er strahlt über beide Ohren. Ganz in Schwarz gekleidet, steht der Jugendtrainer entspannt auf der modernen grünen Matte, an den Füßen knöchelhohe Ringerschuhe. Seine silbergrauen Locken kringeln sich fast bis auf die Schultern – und obwohl er die Altersgrenze von 50 Jahren längst überschritten hat, ist der sportliche Krefelder immer noch aktiv auf der Matte. In der Aline-Rotter-Focken-Halle an der Steinstraße riecht es wie früher beim Schulsport nach dieser Mischung aus Nostalgie und Gummi – trotz der meterhohen Wände, die mit ihren Glasbausteinen und Kippfenstern den Charme der Siebzigerjahre versprühen. Doch die fehlende Frischluft interessiert hier niemanden, nur der Sport zählt. Ein kurzes Kommando von Jochen genügt, damit sich zwei Dutzend Kinder und Jugendliche ordentlich in einer Reihe aufstellen. Fast alle Jungs nehmen sich in den Arm und ziehen für das Gruppenfoto ihre T-Shirts aus, um die schon beeindruckenden Schulter- und Bauchmuskeln zu präsentieren, und auch die wenigen Mädchen der Gruppe schauen forsch in die Kamera.

Keine Frage, das Training und die besondere familiäre Atmosphäre des Vereins haben Spuren hinterlassen; der pädagogische Ansatz, Kinder zu stärken, ihnen über den athletischen Kampfsport Zutrauen zu ihrem Körper und Selbstvertrauen zu vermitteln, funktioniert offensichtlich. Ein Riesenverdienst des langjährigen Trainers, dessen Engagement weit über das Sportliche hinausgeht. Aufgewachsen zwischen den Plattenbauten im rau-herzlichen Stadtteil Gatherhof, trat Jochen im zarten Alter von neun Jahren dem Ringerverein bei und ist heute – neben Georg Focken, Vater von Weltmeisterin Aline – einer der Macher von Germania. Und das Herz. Im Saisonheft lesen wir berührende Sätze: „So werden schwänzende Ringer persönlich zur Schule gefahren. Bei drohender Abschiebung schreibt er Briefe an das Ausländeramt, um die Unabkömmlichkeit des Aktiven zu attestieren. Wenn es schulische Probleme gibt, dann ist es Jochen, der schlichtet. Er spricht mit den Sozialpädagogen oder der Schulleitung und regelt das. Man könnte sagen, er ist der Papa des Vereins.“

Dima Kornilov, 17 Jahre alt, stammt aus der Ukraine und ringt in der Bundesliga.
Ali Soleimani floh vor vier Jahren aus dem Iran. Er spricht mittlerweile akzentfrei Deutsch.

Die große Nähe zu seinen Schützlingen war bereits beim Vorgespräch durchgeschimmert, als der Jugendtrainer zu jedem Namen automatisch Alter, Herkunft und Gewichtsklasse nannte, ohne lange zu überlegen. Familienvater Jochen – die Söhne Ben und Philipp ringen ebenfalls beim KSV – verfolgt eine Philosophie, die gut zu seiner absolut bodenständigen Persönlichkeit passt: „Es gibt klare Regeln und Grenzen. Wir schütteln die Hände, wie es als Zeichen der Wertschätzung unter Ringern üblich ist, schauen uns in die Augen und sprechen alle Deutsch hier.“ Denn neben dem Sport solle auch die Sprache verbinden, betont der Unternehmer mit festem Blick und zählt aus dem Stand einige Herkunftsländer auf, die im Verein ein Zuhause gefunden haben: Usbekistan, Italien, Griechenland, Algerien, Japan, Türkei, Ägypten, Syrien, Iran, Irak oder Ukraine. In etlichen Ländern Osteuropas und im Nahen Osten sei Ringen ein Volkssport, der ganze Stadien fülle, wirft Vereinssprecher Alex Jodas von der Hinterbank ein. „Sogar in der Schweiz ist das historische ‚Schwingen‘ eine Massensportart. Weltweit wird gerungen, in Japan heißt es Sumo-Ringen, in Österreich Rangeln und im Senegal Borreh.“ Laut Wikipedia gehört Ringen zu den ältesten Sportarten der Welt und stand schon bei den antiken olympischen Spielen im Programm. Doch das Klischee eines Kampfes, bei dem zwei Menschen brachial aufeinander eindreschen wie im Show-Wrestling, habe nur wenig mit dem eigentlichen Ringersport zu tun, berichtet Jodas. „Ringen ist eine ästhetische Kampfsportart, die höchste Koordination, Schnelligkeit, Kraft, Ausdauer, Strategie und Technik voraussetzt. Der Sinn des Ringkampfes besteht darin, den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen und auf die Schultern zu befördern.“

„Papa“ Jochen Haeffner mit dem Nachwuchs der stolzen Ringerfamilie.
Vater und Tochter: Soran und Sarina Salehi kommen aus dem Iran, wo Ringen für Mädchen und Frauen verboten ist.

Schulterwürfe, Kopfkippen und disziplinierte Kämpfe werden wir bald live erleben, denn mittlerweile treffen nach und nach die erwachsenen Ringer ein. Obwohl Erik van Berkum ab 19:30 Uhr das Mannschaftstraining übernimmt, ist Jochen Haeffner weiterhin sehr präsent und wird von vielen Sportlern freundlich umarmt. Auch wir Reporter fühlen uns willkommen, denn jeder Neuankömmling begrüßt uns per Handschlag, als wären wir längst Teil der multikulturellen Familie. Mit dem Satz „Ich mag die Menschen hier – sie sind liebevoll, ehrlich und geradeaus“, hatte Jochen auf die Frage geantwortet, warum er sich in dieser einfachen Vielvölkergegend engagiere. Natürlich könne er Golf oder Tennis spielen und Austern statt Döner essen, sagt er heute mit einem Augenzwinkern. „Aber isses das im Leben? Für mich zählt bei Menschen nicht Intelligenz oder Geldbeutel, das Herz ist wichtig. In unserem Verein gibt es Wärme, Respekt, Freundschaft und Zusammenhalt.“ Gute Gründe, eine große Vision zu verfolgen: Der Verein, der vielen neu in Krefeld angekommenen Menschen eine Heimat gibt, will die Trainingsstätte an der Steinstraße zu einem Integrationszentrum umbauen. „Wir benötigen mehr Infrastruktur sowie Büro- und Besprechungsräume, zudem wäre eine Sauna enorm wichtig. Aber auch Übernachtungsmöglichkeiten für auswärtige Ringer müssen wir vorhalten. Das wäre wichtig, um unser Umfeld weiter auszubauen“, erläutert der zielstrebige Macher die Pläne. Finanzielle Unterstützung komme beispielsweise von Sponsoren wie der Wohnstätte Krefeld und der Sparkasse Krefeld, denen er für den bisherigen Support „unglaublich dankbar“ sei. Auch Stadtdirektor Markus Schön oder Architektin Katharina Kulla seien mit viel Herzblut dabei, den größten Verein in der Innenstadt aufzuwerten. „Das wird eine Oase“, verspricht der 2. Vorsitzende und zückt zum wiederholten Male sein Handy, um Bilder und Videos zu zeigen. Seine Begeisterung steckt an.

Can Dam trainiert seit zwei Jahren an der Steinstraße.
Waldemar Schäfer, Russlanddeutscher und ein echter Dinosaurier im Verein, mit einem Nachwuchstalent.

Inzwischen ist das Training in vollem Gange, nachdem knapp 30 Erwachsene schon beim Aufwärmen mit Akrobatikeinlagen fasziniert haben: Purzelbäume, Rolle vorwärts, flüchtiger Handstand oder Sprünge aus dem Stand stellen für die Athleten keine große Herausforderung dar. „Normalerweise ist die Halle mit über 40 Leuten proppevoll“, weiß Alex Jodas und erläutert, dass das muslimische Zuckerfest und eine Baustelle aktuell für Fehlzeiten sorgten. Doch auch in kleinerer Besetzung macht das Zuschauen Spaß, immer wieder deutet Jochen auf einzelne Sportler: „Das ist unser 57-Kilo-Mann“, „Er ist gerade italienischer Meister geworden“ oder „Hier siehst du die Blumenkohlohren besonders gut“. Letztere entstehen durch meist schmerzfreie Blutergüsse in der Ohrmuschel und sind bei Kampfsportlern weit verbreitet. Trotzdem geht es kontrolliert und ruhig zu auf der professionellen 40.000-Euro-Matte, alle sind zu 100 Prozent konzentriert auf den Sport. „Hier gab es noch nie einen Konflikt, obwohl die Herkunftsländer der Jungs teils tief verfeindet sind“, sagt Jochen. „Aber beim Ringen ist der Respekt ein ganz zentraler Faktor.“ Dass wir Gleichberechtigung in Deutschland für selbstverständlich halten, zeigt das Beispiel der 15-jährigen Sarina aus dem Iran, in deren Heimatland der Sport für Frauen verboten ist. 2019 kamen sie und ihre Familie als politische Flüchtlinge nach Deutschland, seitdem hat sie bereits an zahlreichen Turnieren teilgenommen und einige Goldmedaillen erkämpft. Bescheiden teilt die Schülerin uns mit, dass sie „nur“ fünf Sprachen spricht – Iranisch, Kurdisch, Griechisch, Englisch und Deutsch –, bevor sie zurück zu ihrem Vater flitzt, um mit ihm den nächsten Ringkampf auszutragen. Auch Haschim aus Afghanistan hat nur wenige Worte übrig: „Ich bin 18 Jahre alt und lebe seit acht Monaten in Kempen. Den Verein habe ich über das Internet gefunden.“ Und schon geht es wieder auf die Matte. Der 17-jährige Dima trainiert seit zwei Jahren beim KSV, er ist aus der Ukraine geflohen und froh, dass er beim Ringen alles rauslassen könne, was ihm im Kopf herumschwirre. „Ein geiler Sport“, grinst er und lässt uns stehen.

Im Grunde ist Ringen noch viel mehr, denken wir, als wir die Halle um 21 Uhr verlassen: Es geht um Miteinander und Gemeinschaft, genau wie bei den Gefährten in Tolkiens Fantasy-Reihe „Der Herr der Ringe“, die sich für eine bessere Welt einsetzen. Doch im Gegensatz zu Mittelerde ist der Sportverein an der Steinstraße ein Ort zum Wohlfühlen – und sehr real.

Fotos: Rostyslav Sheptykin
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