Heroes in Krefeld

Elli Kreul: Ein Zuhause für alle

Für ihr ehrenamtliches Engagement wurde Elli Kreul mit dem Bundesverdienstkreuz und dem Siegel der Stadt Krefeld ausgezeichnet.

Viel wird in Zeiten des demografischen Wandels über die „Atomisierung der Familie“ gesprochen. War es bis in die Nachkriegsjahre noch gang und gäbe, dass drei oder gar vier Generationen gemeinsam unter einem Dach wohnten, leben Familienbünde heute in ihre kleinsten Einheiten aufgesplittet und nicht selten über die ganze Republik verstreut. Elli Kreul, Begründerin der Krefelder Emmaus-Gemeinschaft, entschied sich als junge Frau ganz bewusst für eine völlig andere Form des Familienlebens: Die Menschen, mit denen sie noch heute in einem offenen Haushalt zusammenlebt, sind zum Teil ehemalige Obdachlose, denen sie die Chance auf ein neues, selbstbestimmtes Leben in einer von Nächstenliebe bestimmten Gemeinschaft bot.

Die Zeit scheint stillzustehen, wenn man das urige grün-weiße Häuschen auf der Peter-Lauten-Straße betritt. Ganz gewiss sind es die vorherrschende friedliche Ruhe und behagliche Wärme, die den Eindruck begünstigen, vor allem aber ist es das charmante Interieur des kleinen Esszimmers. Statt nüchterner IKEA-Konformität regieren hier Improvisationsgeist, Spontaneität und die Lust am Unperfekten. Mehrere Holztische wurden zu einem großen zusammengestellt, Bilder und Plakate schmücken die gelb gestrichenen Wände, ein Urwald aus saftig-grünen Pflanzen die Fensterbänke. Ein mit Edding beschriebenes Flipchart erinnert noch an eine kürzlich erfolgte Teambesprechung – ein weiterer Reminder, das dies kein ganz gewöhnlicher Haushalt ist. Elli Kreul verschwindet kurz nebenan in der Küche, kehrt mit einem üppig gefüllten Keksteller und Kaffee zurück. Zwar ist heute ihr freier Tag, wie sie berichtet, doch so ganz ohne Arbeit ging es dann doch nicht: Eine der vielen Hausentrümpelungen, mit denen sich der Krefelder Emmaus-Verein finanziert, stand auf dem Plan. Und als Gründerin ließ Elli Kreul es sich nicht nehmen, selbst mitanzufassen. Für ihr jahrzehntelanges ehrenamtliches Engagement wurde sie vor kurzem sowohl mit dem Bundesverdienstkreuz als auch mit dem Stadtsiegel ausgezeichnet. Fast ein bisschen widerwillig gesteht sie, dass sie sich über die Anerkennung gefreut habe. Man merkt sofort: Das hochoffizielle Zeremoniell einer Ordensverleihung ist nicht ihre Welt. Sie ist eine Idealistin, ganz sicher, aber viel lieber als sich mit großen Gedanken zu beschäftigen, bewegt sie die Dinge mit ihren Händen. Nächstenliebe ist für Elli Kreul mehr als ein wohlklingendes Wort: Es ist Lebenspraxis – und Arbeit.

Abbé Pierre begründete Emmaus 1949 in Frankreich.

Über eine ausgeprägte soziale Ader verfügte die gebürtige Münsterländerin schon immer, wie sie berichtet: „Ich wuchs mit sechs Geschwistern auf, möglicherweise hat mich das entsprechend vorgeprägt.“ Während es andere Gleichaltrige in eine Banklehre oder an eine Universität zieht, liebäugelte Kreul stattdessen mit einer Tätigkeit in der Entwicklungshilfe. Als sie mit Anfang 20 ihre Französisch-Kenntnisse bei einem Frankreichaufenthalt auffrischte, berichtete eine Freundin immer wieder von diesem Verein namens Emmaus, in dem sie mitwirkte. „Ich wollte wissen, was das war, wovon sie da sprach. Sie sagte nur: ,Das kann man nicht erklären, das musst du selbst sehen!’“, erinnert sich Kreul an den Moment vor rund 36 Jahren, der alles veränderte. Die Freundin hatte nicht zu viel versprochen: Bei Emmaus fand die junge Frau eine große Familie vor, in der Menschen unterschiedlichster sozialer und geografischer Herkunft zusammenlebten und die Mittel für ihren Lebensunterhalt selbst erwirtschafteten. Eine gelebte Utopie, aber auch nicht ohne Konfliktpotenzial: „Unter den Mitgliedern waren viele ehemalige Fremdenlegionäre, die gar nicht gut auf Deutsche zu sprechen waren“, muss die 57-Jährige schmunzeln. Besonderen Eindruck hinterließ Abbé Pierre, der Geistliche, der Emmaus 1949 ins Leben gerufen hatte, und den sie noch persönlich kennenlernte. „Sein Engagement hatte eine stark politische Dimension. Auch im hohen Alter und im Rollstuhl sitzend mischte er sich in öffentliche Debatten ein und verlieh Menschen, die sonst niemand hören wollte, eine Stimme. Es ging ihm nicht darum, Almosen zu verteilen, sondern echten gesellschaftlichen Wandel zu bewirken.“ Die Erkenntnis, dass sie die Dinge durch eigenen Einsatz zum Besseren verändern konnte, prägte Elli Kreul nachhaltig. Religion spielte dabei entgegen der Erwartung tatsächlich überhaupt keine Rolle. Auf ihren Glauben angesprochen, lacht sie nur: „Das fragen mich alle, aber ich bin nicht besonders gläubig.“ Und mit einem Zwinkern fügt sie hinzu: „Ich hoffe, Sie sind jetzt nicht enttäuscht.“

Mit dem Second-Hand-Laden finanziert sich der Verein und gibt Weggeworfenem eine neue Bestimmung.

Zurück in Deutschland reaktivierte Elli Kreul 1993 mit ihrem damaligen Lebensgefährten die wenige Jahre zuvor aufgelöste Emmaus-Gemeinschaft in Krefeld. Es gab viele Helfer, die das karitative Vorhaben tatkräftig unterstützten, aber natürlich stieß Kreul mit dem ehrgeizigen Plan, Obdachlose von der Straße zu holen, auch auf Skepsis oder gar offene Anfeindungen. Aufgeben kam für sie aber nicht infrage – und viele derer, die einst die Nase rümpften, sind heute längst besänftigt. Es ist eben auch der Erfolg, der für sie spricht. Neben den Wohnungsentrümpelungen und dem Second-Hand-Laden, mit denen die Vereinsmitglieder ihren Unterhalt bestreiten, betreibt der Verein auch den Tagestreff „Die Brücke“ auf der Tannenstraße. Hier erhalten Obdachlose fünfmal wöchentlich eine warme Mahlzeit sowie die Möglichkeit, sich aufzuwärmen, zu waschen, umzuziehen und mit anderen auszutauschen. Langzeitarbeitslose reparieren im angeschlossenen Verein Anstoss e. V. Fahrräder oder helfen bei der Gartenarbeit. Dazu beteiligt sich Kreul rege am Austausch mit Streetworkern, öffentlichen Einrichtungen oder Politikern. „Es wird immer viel über Obdachlose oder Drogenabhängige geredet und über ihre Köpfe hinweg entschieden. Mir ist es wichtig, direkt mit ihnen zu sprechen, um zu erfahren, was sie brauchen“, erklärt sie ihre Sicht auf die Dinge. Sie kennt die Schicksale hinter den Menschen, die viele von uns nur als Belästigung beim Einkausbummel empfinden, weiß, wie schnell sich der Absturz oft vollzieht. „Manchmal fehlt einfach eine gute Beratung“, sagt sie. „Es gibt so viele Menschen, die die Hilfe, die ihnen zusteht, nicht in Anspruch nehmen, weil sie gar nicht wissen, dass es sie gibt.“ Echte, wirksame Hilfe müsse aber immer darauf abzielen, Menschen zu Selbstständigkeit zu ermächtigen und die Umstände, die sie zu Opfern machen, zu verändern. Davon gibt es zu wenig.

Das Emmaus-Programm aus Obdachlosen- und Nachbarschaftshilfe, Sozialarbeit, Kapitalismuskritik, Nachhaltigkeit und Umweltschutz wirkt auf den ersten Blick ebenso bunt zusammengewürfelt wie die Einrichtung des Esszimmers oder das Angebot im benachbarten Second-Hand-Laden, aber für Elli Kreul ist das alles miteinander verbunden. „Mit den Obdachlosen ist es ein bisschen wie mit den Möbeln, die wir verkaufen: Die Gesellschaft hat sie weggeworfen, aufgegeben. Wir sind davon überzeugt, dass sie einen Wert haben.“ Den Kern des Vereins bildet die siebenköpfige Hausgemeinschaft, dazu kommen acht Angestellte sowie rund 50 ehrenamtliche Helfer. Immer wieder klopfen Bedürftige an die Tür auf der Peter-Lauten-Straße und bitten um Aufnahme. Doch natürlich sind Bedingungen an sie geknüpft, Regeln, die eingehalten werden müssen. So herrscht bei Emmaus etwa strenges Alkohol- und Drogenverbot. Und natürlich muss es auch auf menschlicher Ebene passen. Wenn Elli Kreul darüber spricht, Menschen von der Straße ein neues Zuhause zu geben, klingt das eigentlich nicht viel anders, als suche sie Mitbewohner für eine WG.  Dieses Leben, das für die meisten von uns nur schwer vorstellbar ist, ist für sie völlig normal. Für sie sind die Männer und Frauen, mit denen sie sich ein Haus teilt, einfach eine große Familie. Ihre Familie. Der Einwand, dass sie dieses Familienleben ja auch mit anderen, vermeintlich „normalen“ Menschen führen könne, will sie nicht so recht überzeugen: „Wäre das dann auch so herzlich?“, lächelt sie. Sie weiß, wo Ihr Zuhause ist.

Der Name „Emmaus“ bezeichnet einen biblischen Ort in der Nähe Jerusalems. Welcher Ort genau damit gemeint war, ist heute nicht mehr zu eruieren: Drei Gemeinden nehmen für sich in Anspruch, das antike Emmaus zu sein. Gesichert ist allerdings, dass der Name wörtlich übersetzt so viel wie „warme Quelle“ bedeutet. Emmaus, das ist demnach ein Ort, an dem man sich gern niederlässt, weil man dort nach langer, beschwerlicher Wanderung Wärme, Wasser und Geborgenheit vorfindet. Emmaus ist ein Ort, der für jeden da ist – und an dem man gut eine Familie gründen kann. Eine Familie, die sich nicht über Blutsverwandtschaft definiert, sondern einzig über das Menschsein.

Spendenkonto
Emmaus Gemeinschaft KR e.V.
IBAN: DE47 3206 1701 1510 18
Volksbank Krefeld


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