„Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr“, weiß ein deutsches Sprichwort. Aber wie lernt man, ein guter Vater zu sein – vor allem in einer Zeit, in der einst fest gefügte Rollenbilder erodiert sind? Eine Frage, mit der sich Ahmet Hamurcu einst selbst intensiv auseinandersetzte. Die Antworten, die der 57-Jährige damals fand, gibt er heute ganz offiziell weiter. In Krefeld leitet er unter dem Dach des Kommunalen Integrationszentrums das Väterprojekt „Baba Destek“, einen ursprünglich aus Istanbul stammenden und über die Landesweite Koordinierungsstelle Kommunale Integrationszentren (LaKI) in ganz NRW bekannt gemachten Kurs, der sich an türkischsprachige Männer richtet. Unter Hamurcus Ägide lernen die Teilnehmer, wie sie zu guten Vätern werden – und wie sie ihre Kinder zu guten Menschen machen.
Der einst vorherrschenden Überzeugung, dass Erziehung die Aufgabe der Mutter ist, während der Vater das Geld nach Hause bringt, haben die Fortschritte in der Gleichberechtigung und die Veränderungen der Arbeitswelt in den letzten vier Jahrzehnten glücklicherweise den Garaus gemacht. In Familien mit Zuwanderungsgeschichte sieht das hingegen oft noch anders aus. „Während meiner Tätigkeit als Sozialpädagoge habe ich gemerkt, dass die Kindererziehung vielen Vätern schwerfällt“, berichtet Hamurcu. „Aber gerade Kinder, die zwischen zwei Welten und Kulturen aufwachsen, benötigen die Unterstützung beider Elternteile. Ich möchte Vätern ein Bewusstsein für die Bedeutung ihrer Rolle vermitteln und ihnen beibringen, wie sie ihre Kinder bestmöglich fördern.“
Als Türke, der selbst erst mit 30 nach Deutschland kam, Pädagoge und Vater zweier erwachsener Söhne, genießt Hamurcu in der türkischen Gemeinde große Anerkennung. „Hoca“ – eine Respektsbekundung, die man vielleicht mit „Lehrer“ ins Deutsche übersetzen könnte – nennen sie ihn, rufen ihn an, wenn sie Hilfe benötigen, und halten auch nach vielen Jahren noch Kontakt zu ihm. Väter, die seinen Kurs besuchten, bedanken sich für den Rat, den er ihnen gab, Mütter für die Veränderung, die ihre Ehemänner unter seiner Anleitung durchgemacht haben. Sein Einfluss reicht sogar bis in die Politik: Dass Krefeld seit 2008 offiziell mit der türkischen Metropole Kayseri verpartnert ist, geht auch auf Hamurcus Beziehungen zurück. Dabei ist er keinesfalls ein klassischer Patriarch, ein Mann, der schon durch sein physisches Erscheinungsbild Ehrfurcht einflößt: Ahmet Hamurcu ist klein und schmal, dabei ungemein zuvorkommend, bescheiden und höflich. Er trägt ein weinrotes Samtjackett zu einem zart rotkarierten Hemd. Sein Lächeln, das ein schmaler Schnurrbart ziert, ist sanft und freundlich. Die Fältchen in den Augenwinkeln zeugen von einem emotionalen Mann, der gern und viel lacht, dem aber auch Tränen nicht fremd sind. Seine Augen nehmen sofort für ihn ein: Strahlend, offenherzig, wach und aufmerksam, aber niemals taxierend. „Glaube mir das bitte!“, sagt er immer wieder, um zu unterstreichen, wenn ihm etwas besonders wichtig ist, und oft zieht er Zitate, türkische Sprichwörter, blumige Bilder oder Gleichnisse heran, um etwas zu erläutern. „Man muss die Herzen der Menschen erreichen, wenn man etwas bewegen will“, sagt er. Und auf seine besondere, geduldige, verständnisvolle und tolerante Art ist es ihm gelungen, auch skeptische Männer zu liebenden, fürsorglichen Vätern zu machen.
Seine eigene Biografie hat dazu einen wichtigen Teil beigetragen, denn Ahmet Hamurcu wuchs bei seinem älteren Bruder in Istanbul auf, weit entfernt von seinem Elternhaus. An seinen Vater erinnert er sich voller Liebe: „Ich werde ihn nie vergessen“, gesteht er. „Er war Weintraubenbauer, konnte weder lesen noch schreiben, aber er war für mich ein großes Vorbild. Er hat mich gelehrt, meine Arbeit immer so gut wie möglich zu machen.“ Die zahlreichen Kugelschreiber, die der Landwirt in der Innentasche seiner Jacke trug, waren für den jungen Ahmet stets ein Rätsel. Wofür brauchte ein Mann, der doch nicht schreiben konnte, so viele Stifte? „Mein Vater hatte beruflich viel Kontakt zu gebildeten Menschen. Ich glaube, die Stifte waren seine Art, mir zu zeigen, wie wichtig Bildung ist. Das war mir ein Ansporn, fleißig zu sein und zu studieren.“ In dem kleinen Dorf in der Nähe von Kayseri, in dem Hamurcu aufwuchs, gab es aber keine weiterführende Schule, die er hätte besuchen können. Also zog er schon als Kind zu seinem älteren Bruder ins rund 800 Kilometer entfernte Istanbul, sah seine Eltern nur in den Sommerferien. Er war gerade 14, als er vom Unfalltod seines Vaters erfuhr.
Nach Deutschland kam Hamurcu zu Beginn der Neunzigerjahre. Eigentlich sollte es nur ein kurzer Abstecher werden, aber das Leben hatte einen anderen Plan für ihn. Auf Wunsch seiner Mutter hatte er kurz zuvor die in Krefeld lebende Ümüs geheiratet, die Tochter einer befreundeten Familie. Sie zog zu ihm in die Türkei und wurde schwanger, doch Hamurcu bemerkte bald, dass sie nicht glücklich war. „Ich nahm an, sie habe nur Heimweh, also sagte ich ihr, sie solle ihre Familie in Deutschland besuchen“, erinnert er sich. Wenig später erhielt er einen Anruf von Ümüs: Unter Tränen teilte sie ihm mit, dass sie ihr gemeinsames Kind verloren habe. Hamurcu packte seine Sachen und reiste nach Krefeld. „Ich spürte, dass meine Frau nicht zurück in die Türkei wollte“, berichtet er. In einem Telefonat mit der Mama bat er um ihre Erlaubnis, in Deutschland bleiben zu dürfen. „Sie sagte, ich hätte nun eine Ehefrau, um die ich mich sorgen müsse. Aber ich sei immer in ihrem Herzen. Sie nahm mir damit eine schwere Last von den Schultern.“ Wenn Hamurcu von seinen Eltern redet, hört man tiefe Dankbarkeit und Respekt, ein beinahe heiliges Band, das ihn mit seinen Erzeugern verbindet. Noch heute besucht er einmal im Jahr das Grab seiner Mutter und seines Vaters in der Türkei. Hamurcu habe lange gebraucht, um sich an die neue, fremde Heimat und Kultur zu gewöhnen, gesteht er. Er war Akademiker, stand eigentlich am Anfang einer Berufslaufbahn, auf die er lange hingearbeitet hatte, nun besaß er noch nicht einmal eine Arbeitserlaubnis. „Aber man muss akzeptieren, was Gott einem gibt und dann das Beste daraus machen“, gibt er mit einem Lächeln Einblick in seine Lebensphilosophie. Als seine Frau wieder schwanger wird, kommt bei ihm die Frage auf, was er für ein Vater sein möchte. Was soll er seinen Kindern vermitteln, die in einem für ihn fremden Land aufwachsen werden? „Ich habe Bücher gesucht, aber keine gefunden“, erinnert er sich. „Für Mütter gab es zahlreiche Ratgeber, aber keinen für Väter.“ Eine Idee reifte in ihm heran, doch es dauerte dennoch einige Jahre, bis sie Früchte trug.
Hunderte von Vätern hat Hamurcu im Rahmen des Vaterprojektes in über zehn Jahren beraten, betreut, angeleitet. Zu Anfang ging er meist selbst auf sie zu und versuchte, sie für sich zu gewinnen. „Man muss die Sprache des Gegenübers sprechen, erfühlen, wo er steht und was er braucht“, sagt er. Auch Skeptiker überzeugt er mit seiner einfühlsamen Art, verwandelt Paschas in liebevolle Babas, die ihre Kinder als Freunde betrachten. „Ich sage ihnen: Hör‘ deinem Kind zu, frag‘ es, wie es in der Schule war, hilf‘ ihm bei den Hausaufgaben, zeig‘ Interesse an ihm. Und verbringe Zeit mit ihm: Spiel‘ mit ihm Fußball, kauf‘ ihm ein Eis, nimm‘ es in den Arm! Das ist ganz ganz wichtig. Glaub‘ es mir bitte auch!“ Heute kommen Schulleiter und Schulleiterinnen initiativ auf Hamurcu zu, um ihn mit hilfebedürftigen Eltern in Verbindung zu bringen.
Der Väterkurs umfasst acht bis zehn Sitzungen, insgesamt etwa 40 Stunden. Zu Beginn wird der Inhalt besprochen und die Teilnehmer dürfen eigene Wünsche äußern. Ist die Hälfte absolviert, kommen die Mütter für eine Veranstaltung hinzu. Am Ende erhält jeder Vater eine Urkunde: Wie es Hamurcus Art entspricht, kein von oben herab verabreichtes Zertifikat, sondern eine Danksagung an die Väter, die mit ihrer Teilnahme dazu beitragen, ihre Kinder zu selbstständigen Menschen zu machen. Zweimal im Jahr gibt es Ehemaligentreffen, es wird gegrillt oder gefrühstückt. Man sieht es Hamurcu an, wie sehr es ihn berührt, wenn er von Vätern berichtet, die ihm Bilder von ihren heute erwachsenen und erfolgreichen Söhnen zeigen. Auch im Kommunalen Integrationszentrum sind sie stolz auf ihren „Abi“, auf ihren „großen Bruder“ Ahmet. „Es sind diese kleinen Projekte von Mensch zu Mensch, mit denen wir Integration wirklich vorantreiben, mehr als mit irgendwelchen großen Kampagnen“, sagt Paul Brand, stellvertretender Leiter des KI und ein guter Freund des türkischen Pädagogen. „Es ist wirklich beeindruckend, was Ahmet erreicht hat, zu sehen, wie viel Einfluss er in der Community hat.“ Derzeit wird überlegt, das Programm auch in anderen Sprachen anzubieten. Auch mancher deutscher Vater könnte einen solchen Kurs gut gebrauchen. Aber wird man nochmal so einen wie Ahmet finden? „Baba Destek steht und fällt mit ihm, er füllt das Programm mit Leben“, lässt Brand keinen Zweifel.
Hamurcus Söhne, die Zwillinge Bilge Kaan und Oguzhan sind heute 27, „gute Fußballer“, wie er sagt, gutaussehende Burschen, einen guten Kopf größer als ihr Vater. „Ich wünsche mir, dass sie einmal über mich sagen werden, dass ich sie gut auf ihr Leben vorbereitet habe“, sagt er. Ob er denn bald auch Opa werden wird? Hamurcu druckst herum, das Thema ist ihm ein bisschen unangenehm. „Das müssen meine Söhne selbst entscheiden“, lächelt er verlegen und man erkennt: Er würde sich nichts sehnlicher wünschen. „Ich bin ein stolzer Vater“, fügt er hinzu. Und er hat in Krefeld viele, viele Kinder.