„Männer nehmen in den Arm, Männer geben Geborgenheit“ – als Herbert Grönemeyer 1984 den Song „Männer“ schrieb, dachte er wahrscheinlich nicht an heutige Erzieher oder Tagesväter. Der deutsche Rockklassiker dreht sich teils satirisch um Klischees und traditionelle Rollenbilder. Doch mit dem Zeitgeist der Achtziger hat Stephan Riedel herzlich wenig zu tun: Seit zehn Jahren betreut er hauptberuflich bis zu fünf fremde Kleinkinder gleichzeitig. Dass sich Mittagessen, Meerschweinchen und Musik unter einen Hut bringen lassen, verriet uns der Diplom-Theologe und Sozialarbeiter entspannt in seinem originell gestalteten Gorilla-Nest. Das Fundament: Kompetenz, Zuneigung und ein strukturierter Tagesablauf.
Alles ist grün! Gleich hinter der Haustür wird klar: Diese Krefelder Kindertagespflege fällt etwas aus dem Rahmen. Denn die Altbauwohnung im ehemaligen Arbeiterviertel wirkt wie ein kindgerechter Mini-Dschungel in der Stadt. Die Wände sind grün gestrichen oder mit Bäumen und Tieren bemalt, von der Decke hängen Taue wie Lianen, selbst der massive Wickeltisch glänzt in harmonischen Grüntönen. Neben dem obligatorischen Erste-Hilfe-Kasten befinden sich zwei kleine Terrarien und ein Aquarium, die von Heuschrecken, Garnelen und Schnecken bewohnt werden. Tagesvater und Tierliebhaber Stephan Riedel hat eben eine genaue Vorstellung von seinem Konzept. Er erläutert mit ruhiger Stimme, warum er den Namen Gorilla-Nest gewählt hat: „Ich glaube, dass wir viel aus der Beobachtung von Tieren für uns lernen können. Gorillas sind sehr gesellige Tiere, die einen Großteil des Tages damit verbringen, ihre Beziehungen zu den anderen Gruppenmitgliedern zu pflegen. Am Abend aber baut sich jedes Tier ein Nest und schläft dort für sich. Nur Jungtiere schlafen bei der Mutter.“ Ein dezentes Lächeln schleicht sich auf sein Gesicht.
Das Sozialverhalten der Menschenaffen bildet für den 48-Jährigen auch die Basis der Kindertagespflege. Denn Riedel ist überzeugt, dass Kinder frühzeitig den Umgang miteinander benötigen, um soziale Kompetenzen zu erlernen. „Größere Kinder schauen schnell, ob die Kleineren vielleicht Hilfe benötigen. Und viele Dinge machen mit mehreren Kindern erst so richtig Spaß. Genauso ist es aber notwendig, dass jedes Kind sich zurückzuziehen und eine Zeitlang für sich sein kann.“ Das gemütliche Hochbett ist mit der Rutsche und den kuscheligen Schlafhöhlen nur ein Beleg für das handwerkliche Geschick des Wahlkrefelders mit zwei Diplomen. Im Wohnzimmer gibt es weitere Rückzugsmöglichkeiten vor dem selbst gebauten Meerschweinchen-Gehege. Überhaupt ist die ganze Wohnung konsequent auf die Bedürfnisse von Kleinkindern abgestimmt, im Grunde wie das Zuhause einer Familie. Nur mit vielfältigen Sicherheitsvorkehrungen und strengen gesetzlichen Vorgaben.
Auch der städtische Fachbereich Jugendhilfe, der geeigneten Frauen und Männern eine formale Pflegeerlaubnis erteilt, spricht von einem „familienähnlichen Förder- und Betreuungsangebot“ als Ergänzung zu den knapp bemessenen Plätzen in Kindertagesstätten. Neben Spaß am Umgang mit Kindern, Einfühlungsvermögen, Geduld und guten Kommunikationsfähigkeiten sind ein Hauptschulabschluss, ein einwandfreies erweitertes polizeiliches Führungszeugnis und deutsche Sprachkenntnisse mindestens auf B2-Niveau erforderlich. „Mittlerweile werden interessierte Personen in über 300 Qualifizierungsstunden auf diese verantwortungsvolle Aufgabe vorbereitet“, berichtet Stephan Riedel und zählt ein paar „Schulfächer“ auf: Kinderentwicklung, Kochen, Elterngespräche führen oder Erste Hilfe. Wickeln habe er später an einer Babypuppe gelernt. Er zeigt zufrieden auf die grüne Kommode, die er so rückenfreundlich wie flexibel gestaltet hat. „Wenn an einem Tag fünf Kinder hintereinander zu wickeln sind, weiß man die richtige Höhe zu schätzen“, grinst der 48-Jährige. Je länger wir uns unterhalten, desto klarer wird auch, dass hier wirklich jedes Detail gut durchdacht ist.
Doch wie wandelt sich ein kinderloser Diplom-Theologe und Sozialarbeiter mit Bachelor-Abschluss zum pragmatischen wie liebevollen Tagesvater? „Schon als Jugendlicher habe ich gern im Kinder- und Jugendbereich unserer Kirchengemeinde mitgearbeitet. Mein erstes Berufsziel war daher, evangelischer Pfarrer zu werden“, erinnert sich Riedel etwas nüchtern an die ersten Stationen seines Lebenslaufs. „Nach dem Studium in Münster war jedoch keine Pfarrstelle frei. Also wurde ich zunächst Jugendleiter und arbeitete mit Kleinkindern, aber in erster Linie in der Altersgruppe Vorschulalter bis junge Erwachsene. Später war ich Sozialarbeiter im Betreuten Wohnen und hatte mit Erwachsenen zu tun, die suchtkrank oder psychisch behindert waren. 2012 merkte ich einfach, dass mir die Kinder mit ihrer Offenheit, Neugier und Lebendigkeit fehlten. Ich wollte mich verändern.“ Er zuckt fast entschuldigend mit den Schultern. Was folgt, sind gezielte Bewerbungen bei Kitas und Kinderheimen und eine zufällige Begegnung, die sein Leben in eine neue und gleichzeitig alte Richtung lenkt. „Meine Frau leitete damals den ambulanten Dienst der Hospiz Stiftung Krefeld und stellte mir eine Ehrenamtlerin vor, die auch Tagesmutter war.“ Sein knappes Fazit bereits am zweiten Praktikumstag: „Das ist super, das mache ich!“ Die Nähe zu den Kindern überzeugt ihn vollkommen.
Fortan absolviert Stephan Riedel alle notwendigen Schulungen, nimmt Kontakt auf zum Kinderschutzbund und bereitet sich gründlich auf die Selbstständigkeit vor. Schritt für Schritt realisiert er den Traum vom Gorilla-Nest, in dem seine Vorstellungen von Leben, Job, Erziehung und Tierhaltung unter einem Dach vereint sind. Der gebürtige Unnaer strahlt: „Neben der Arbeit mit Kindern sind Nagetiere meine große Leidenschaft, deshalb leben aktuell drei Meerschweinchen bei uns. Tiere haben ihren eigenen Rhythmus und strahlen dadurch eine gewisse Ruhe aus.“ Angehenden Tagespflegepersonen rät der Tagesvater, sich vorab mit dem Vermieter sowie den Nachbarn zu verständigen, denn mit fünf Kindern könne es auch mal lauter zugehen. Eine Kinderdisco zum 3. Geburtstag morgens um zehn komme nicht unbedingt gut an, weiß er aus Erfahrung. „Eine Nachbarin, die im Homeoffice arbeitet, hat unser Herunterdrehen der Bässe sogar mit Schokolade belohnt“, schmunzelt er.
„Kindertagespflege bedeutet: Ich wohne hier, betreue von sieben bis 16 Uhr die Kinder und mache alles selbst, ob Kochen, Putzen, Reparieren oder Wickeln. Wir sind keine Mini-Kita.“ Ein fester Blick. Doch diese Intensität sei auch das Schöne an dem Job, resümiert Riedel und zückt einen grünen Zettel mit Notizen: „In zehn Jahren habe ich 18 Jungs und 14 Mädchen hier gehabt. Das bedeutet, sehr viel Zeit mit relativ wenig Menschen zu verbringen. Ich kenne die Familienverhältnisse, erlebe ihre kleinen und großen Fortschritte und werde als wichtige Bezugsperson sogar zu Kindergeburtstagen eingeladen.“ Er hat unzählige Anekdoten über seine Kids parat, erzählt sanft von Trotzphasen, ersten Berührungen, Geschwisterkindern oder Rotz-und-Wasser-Tränen beim Abschied. Kein Wunder, dass jeden Mittwoch ein Ehemaligentreffen im Gorilla-Nest stattfindet. Was auch nicht überraschen dürfte: Seit ein paar Jahren ist Ehefrau Britta gleich um die Ecke aktiv – als Tagesmutter in der Erdmännchen-Lodge. So kommen gleich zehn Kinder zum beliebten Zirkusprojekt im Garten zusammen.
Zwei Jahre nach dem großen Erfolg „Männer“ schrieb Herbert Grönemeyer das Lied „Kinder an die Macht“ mit einem politischen Text, der bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hat. „Die Welt gehört in Kinderhände“ – und wir wissen jetzt, wo sie außerhalb von Familie und Kita Geborgenheit und Sicherheit finden können, um später starke und glückliche Erwachsene zu werden.