Kulturgut Telefonzelle

Die Groschen sind gefallen

Dagmar Küsters hat der aussterbenden Telefonzelle ein kleines Denkmal gesetzt.

Das Handy ist schuld: Am 30. Januar wurden in Deutschland alle bestehenden Telefonzellen deaktiviert. Leuchtend gelb oder später grau-magentafarben standen sie an jeder Straßenecke, zu Hochzeiten gab es 160.000 davon. Für die Generation Smartphone ist es kaum vorstellbar, dass man zum Telefonieren unterwegs Kleingeld brauchte und Schilder forderten: „Fasse Dich kurz!“ Wer über 30 ist, denkt an den Geruch der engen Häuschen, an dicke Telefonbücher oder Filme, die ohne öffentliche Fernsprecher nie gedreht worden wären. Bei ihren Streifzügen durch Krefeld machte Hobbyfotografin Dagmar Küsters noch 59 Telefonzellen ausfindig. Und holte so manche Erinnerung ans Licht.

„Hier stecken tausend Geschichten drin.“ Mit dieser Aufschrift lockte die Telekom früher, ein Telefonhäuschen zu betreten. Eine ganze Generation kramte in der Hosentasche nach Münzen, wartete mehr oder weniger geduldig in der Schlange und führte sparsame Telefonate. „Wir sind gut angekommen“, „Ich vermisse dich“ und vor allem „Mein Geld ist gleich alle“ waren Standardsätze – bevor das Gespräch mit einem Klimpern einfach abbrach. Als Dagmar Küsters im November davon las, dass der Betrieb der wenigen noch verbliebenen Telefonzellen nach 142 Jahren ganz eingestellt werden sollte, war ihr erster Gedanke: „Ach wie schade, ich bin doch damit groß geworden!“ Die Hobbyfotografin fragte sich, wie viele Telefonhäuschen und Stelen es in ihrer Heimatstadt wohl noch geben könnte. Und fand nach einer Recherche im Internet eine Liste mit immerhin 59 Standorten. „Eine solide Basis“ für ihr nächstes Fotoprojekt, nachdem die 48-Jährige zuvor schon U-Bahnen, Friedhöfe oder Greifvögel abgelichtet hatte, wie ein Blick auf die Webseite ergibt. „Hier stecken tausend Geschichten drin.“ Dieser Satz schmückt nun auch das hochwertige Fotobuch, das Küsters mit einem Lächeln auf den Tisch vor uns legt. Ganz unbewusst hat sie den ehemaligen Slogan „Fasse dich kurz!“ verinnerlicht, denn die bescheidene Bankerin braucht grundsätzlich nicht viele Worte, lässt lieber ihre Bilder sprechen. Auf mattem Papier sehen wir das Ergebnis wochenlanger Erkundungsgänge durch die Stadt, sorgfältig mit den jeweiligen Straßennamen beschriftet. „Was wirklich auffällt: Alle 59 öffentlichen Fernsprecher sind schmutzig, defekt oder mindestens bekritzelt“, resümiert Küsters und zeigt auf ein Foto. „Am Moritzplatz ist nicht mal mehr der Hörer vorhanden.“ Die metallene Schnur baumelt traurig ins Leere. Doch die Künstlerin hat die Bilder so zusammengestellt, dass sie einen eigenartigen, fast morbiden Charme entwickeln: „Entschuldigung, zur Zeit gestört“ steht auf einem Display, „Ruf sie an“, prangt mit schwarzem Edding auf einem Hörer und sogar die Zahl „59“ hat die Fotografin in einer Ecke gefunden.

Die Relikte aus einer vergangenen Zeit strahlen manchmal einen geradezu morbiden Charme aus.

Mit ihrer professionellen Kameraausrüstung, einer Lumix S5, sei sie bei ihren Streifzügen oft aufgefallen, erinnert sich die Krefelderin schmunzelnd. „Vor allem ältere Menschen haben mich angesprochen und fanden die Projektidee klasse. An der Hülser Straße kam beispielsweise eine Dame mit Wäschekorb unter dem Arm auf mich zu, und wir sprachen über das Kulturgut Telefonzelle. Für viele ging mit der Deaktivierung der letzten öffentlichen Fernsprecher eine Ära zu Ende.“ Denn seit den Neunzigerjahren haben Handys von Unternehmen wie Motorola, Nokia, später Samsung und schließlich Apple schrittweise die Telefonzellen ersetzt. Der Betrieb war mangels Nachfrage nicht mehr wirtschaftlich, und seit der Änderung des Telekommunikationsgesetzes Ende 2021 gab es für die Telekom als Grundversorger keine Verpflichtung mehr, den Bestand öffentlicher Telefonstellen zu erhalten. Die letzten Häuschen sind nun deutschlandweit als Bücherschränke, Eiskioske, Mini-Discos oder gar als Duschkabine im Einsatz.

Was jedoch bleibt, sind Erinnerungen: an den oft unangenehmen Geruch nach Schweiß, nassem Papier oder gar Urin, an klebrige Hörer und dicke Telefonbücher, bei denen die wichtige Seite herausgerissen war, und an das Glücksgefühl, wenn man als Kind unverhofft ein paar Groschen in der Lade fand. Filme wie Tom Tykwers „Lola rennt“, „Matrix“ mit Keanu Reeves, „Nicht auflegen!“ mit Colin Farrell oder auch „Harry Potter“ sind ohne Telefonhäuschen gar nicht vorstellbar. Im Comic „Superman“ zieht sich Clark Kent in einer Telefonzelle um. Und der Roman „Die Telefonzelle am Ende der Welt“ von Laura Imai Messina traf 2020 einen Nerv und wurde zum Bestseller. Die weltweit bekannteste Telefonzelle kennt man jedoch aus dem Fernsehen: Seit fast 60 Jahren reist der Außerirdische „Doctor Who“ in seiner blauen Tardis durch Raum und Zeit.

Auch Dagmar Küsters ist gedanklich schon in der Zukunft unterwegs: Gemeinsam mit einer Buchautorin und einem befreundeten Fotografen bereitet sie gerade eine Lesung mit Fotoausstellung in Kamp-Lintfort vor, und im Sommer wird die Hülserin bei der Aktion „Kunst am Gartenzaun“ dabei sein. Kein Zweifel: „Hier stecken noch tausend Geschichten drin.

dk-fotografie.com

Portraits: Luis Nelsen, Fotos: Dagmar Küsters
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