Das despektierliche Klischee vom Modellbauer beschreibt einen introvertierten Typ, der kaum die Zähne auseinander bekommt und sich am liebsten den ganzen Tag in seinem Keller verschanzt. Wenn es überhaupt eines Beweises bedarf, dass diese Vorstellung zumindest in pauschaler Form verkehrt ist, dann liefert ihn Jürgen Bister aus Bockum in besonders eindrucksvoller Weise. Der erfolgreiche Gastronom ist ein begnadeter Kommunikator. Er spricht laut und schnell, liebt Reisen mit Freunden und die Geselligkeit überhaupt. Ein Herzinfarkt im Jahr 2014 machte ihm allerdings ebenso abrupt wie dramatisch klar, dass sein Alltag dringend Phasen der Ruhe braucht. Seitdem widmet er mehrere Stunden pro Woche der Fertigung maßstabsgetreuer Boote und Schiffe mit Elektroantrieb. Zu bewundern sind sie regelmäßig auf hiesigen Gewässern.
Jürgen Bister führt den Besuch zunächst ins Wohnzimmer. Der erste Blick fällt in den schmucken Garten des Einfamilienhauses, ruhig gelegen in einem Wendehammer unweit des Bockumer Platzes. Der zweite Blick gehört einem etwa 1,40 Meter großen Objekt in der Mitte des Raumes. Es ist ein Leuchtturm im klassischen Rot-Weiß. „Er ist größer geworden, als ursprünglich geplant“, erzählt der Erbauer. „Irgendwann war er dann dreistöckig.“ Das Modell wird nicht nur von einem kleinen Leuchtturmwächter bewohnt. Es kann auch – ganz wie die Großen – Signale senden. Jürgen Bister schnappt sich eine Fernbedienung und schaltet die Birne im Blinkmodus ein. Havarien im Hause Bister sollten damit kein Thema sein.
Der gebürtige Krefelder liebt das Maritime. Auf die Frage „Warum Schiffe?“ kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen: „Wegen der Nordsee.“ Seit vielen Jahren fahren Jürgen und Yvonne Bister mit ihrem Wohnwagen nach Sylt. Immer mit dabei: mindestens ein Modell, das der Niederrheiner auf dem berühmten Wenningstedter Dorfteich Runden drehen lässt. Natürlich kommt er auch im Urlaub sofort mit Gleichgesinnten ins Gespräch, lernt Modellbauer aus Goch wie aus Kiel kennen. In der niederrheinischen Heimat teilt der 54-Jährige seine Leidenschaft vor allem mit den rund 60 Mitgliedern des Modellbauclub Krefeld. Nach seinem Eintritt im Jahr 2017 ist Jürgen Bister inzwischen zum Kassenwart aufgestiegen. Jeden Donnerstagabend trifft man sich im Vereinsheim in Moers-Kapellen. In der umbauten Scheune arbeiten fünf bis sechs Enthusiasten nebeneinander und doch zusammen an ihren jeweiligen Projekten.
Sonntags geht es oft an den Elfrather See, wo auch Zuschauer „immer herzlich willkommen sind“, wie Jürgen Bister betont. Erlaubt sind ausschließlich E-Antriebe. Benzinmotoren sind ein zu großes Risiko für die Umwelt. Das letzte große Showfahren, einer der Höhepunkte der Saison, fand Mitte Mai statt. Kurze Zeit später folgte der Auftakt zur diesjährigen Clubmeisterschaft im Schönwasserpark. „Da geht es um Geschicklichkeit“, so der Kassenwart. Es gilt, Bojen-Parcours zu bewältigen und in vorgegebene Anlegestellen zu rangieren. Bisters beste Platzierung war Rang fünf. Die höchsten Ehren gönnt er neidlos anderen. „Wir haben sogar einen Weltmeister im Verein“, sagt er stolz.
Bis ein Modellschiff vom Stapel läuft, können viele Wochen vergehen. 16 Monate für eine US-amerikanische Mahagoni-Yacht war der bisherige Langzeit-Rekord von Jürgen Bister. „Allein die Trockungsphasen für Leim und Lack können mitunter einen Monat in Anspruch nehmen“, sagt er. Fast ausschließlich verwendet er Holz. „Das ist das Material meiner Wahl.“ Seit seinem Modellbau-Start als Erwachsener vor sieben Jahren sind acht Boote entstanden. „Da können viele Vereinskollegen natürlich nur drüber lachen. Die haben im Laufe ihres Lebens schon einige Dutzend Exemplare gefertigt.“ Das älteste Clubmitglied ist Jahrgang 1942, das jüngste 13 Jahre alt. Jürgen Bister ist in diesem Hobby ein Spätzünder. Zwar bastelte er schon als Kind und Jugendlicher mit seinem Vater. So entstanden ein Schiff, ein Auto und ein Flugzeug. Ein „echter Modellbauer“ wurde er jedoch erst nach seinem Herzinfarkt. „Der hat mich für drei Monate aus dem Verkehr gezogen“, berichtet der gelernte Koch und selbstständige Caterer für Seidenweberhaus und Yayla-Arena. Die Ärzte rieten ihm nachdrücklich, einen Ausgleich zum stressigen Job zu schaffen. „Da habe ich mich an meine Jugend erinnert.“
Die Wahl des Hobbys hatte ungeahnte Auswirkungen – auch auf das Haus, wie Jürgen Bister bei einem Rundgang durchs Erdgeschoss erläutert. „Nach dem Auszug unserer erwachsenen Tochter war plötzlich viel Platz vorhanden.“ Aus dem Nähzimmer wurde so eine kleine Werkstatt, ausstaffiert mit Arbeitsplatten und Hängeschränken einer ausrangierten Küche. „Auch so geht Nachhaltigkeit“, meint Jürgen Bister lachend. Direkt daneben, vormals das Kinderzimmer, befindet sich der „Ausstellungsraum“. Hier stehen die Ergebnisse wochenlanger Handarbeit. Das kleinste Modell hat eine Rumpflänge von 60 Zentimetern. Das größte ist mehr als anderthalb Meter lang. Besonderen Eindruck auf Zuschauer macht der Hafenschlepper „Jonny“. Er kann sich „auf dem Teller drehen“, schafft also Manöver auf engstem Raum, verfügt über mehrere funktionierende Winden, spritzt Wasser in alle Richtungen und gibt sogar Motoren- und Möwengeräusche von sich. Verständlich, dass da vor allem Kinder leuchtende Augen bekommen. Bei Fertigungskosten von rund 2.500 Euro müssten aber selbst wohlwollende Eltern schlucken. „Doch es gibt ja genügend Bausätze für Einsteiger“, beruhigt Jürgen Bister, der selbst fast ausschließlich nach eigenen Entwürfen und Plänen arbeitet.
Sein neuestes Modell ist ein sogenannter Wasser-Camper, wie sie im Original rund um die Mecklenburgische Seenplatte im Einsatz sind. „Im Grunde ist es ein Hausboot – nur dass das Haus der eigene Campingwagen ist.“ Unter Jürgen Bisters Händen ist nicht nur das Floß entstanden, sondern auch der Wohnwagen. Als Vorbild diente das echte rollende Heim vor der Haustür. Sogar die Stoffbezüge der ausklappbaren Schlafcouch sind ähnlich. Demnächst will das Ehepaar an die Müritz reisen, um die Miniatur-Ausgabe zwischen den Originalen schwimmen zu lassen. Das dürfte für reichlich Aufsehen sorgen.
In Gedanken ist der Modellbauer schon beim nächsten Projekt. Der Rumpf liegt schon fertig auf der Arbeitsfläche. „Das wird eine Vergnügungsyacht aus den Sechzigerjahren.“ Pausen sind in der „Werft Bister“ nicht vorgesehen. „Es geht immer direkt von einem Projekt ins nächste.“ Nicht selten laufen Arbeiten parallel, etwa während längerer Trocknungsphasen. „Im Modellbau braucht es vor allem eins: Geduld“, betont der 54-Jährige. Es müsse einem schon liegen, minutenlang irgendwelche Klebestellen aneinander zu drücken. Er selbst könne dabei wunderbar abschalten. Selbst die für vermutlich viele Menschen nervige Schleifmaschine klingt in seinen Ohren „beruhigend“. Die „schweren Maschinen“ stehen im Keller, wo Staub und Lärm am wenigsten für Probleme sorgen.
Jürgen Bister greift vor allem abends zu Säge, Leim und Schleifpapier. „Nach dem Abendessen und den Nachrichten gehe ich noch ein Stündchen in den Keller oder meine Werkstatt.“ Ehefrau Yvonne, obgleich selbst kein Vereinsmitglied, sieht es gelassen. Mehr noch: Sie unterstützt ihren Mann bei seinem Hobby. „Ich finde es gut, dass er etwas gefunden hat, was ihm Spaß macht und bei dem er entspannen kann“, sagt sie. Sie selbst nutzt die Freizeit vor allem zum Lesen und Stricken.