Zuversicht, Neugierde und Mut sind die Zutaten eines Lebens, das so nie hätte am Reißbrett entworfen werden können. Manfred „Manni“ Veit ist Goldschmied, Bankangestellter … und Jazzmusiker. Er hat auf zwei Kontinenten gelebt, Frauen geliebt, geheiratet und verloren, einen Sohn groß gezogen und in New Orleans, der Wiege des Jazz, auf seinem Banjo „geklimpert“. Die Augen des 77-jährigen Mannes leuchten, wenn er über die vielen Höhen seines Lebens spricht, aber sie verraten auch den Schmerz fundamentaler Schicksalsschläge, die er zu bewältigen hatte. Veit weiß durchaus um die Außergewöhnlichkeit seiner facettenreichen Biografie, könnte sie aber kaum lakonischer vortragen. „Die Musik ist mein Leben“, sagt er. Tatsächlich bildeten die Klänge des Banjos stets den Soundtrack sowohl freudiger wie trauriger Episoden.
Die Wandlungsfähigkeit, die seine Karriere kennzeichnet, wird notgedrungen schon früh zu einer Konstante seines Lebens: Seinen ersten Neuanfang startet er bereits mit zwölf Jahren, nach der Flucht seiner Eltern aus dem idyllischen Naumburg in der DDR. Es geht nach Westen, nach Krefeld, in die Heimatstadt seiner Mutter. Neue Schule, neue Menschen – eine völlig andere Mentalität. Doch Manfred ist damals schon aufgeschlossen und wissbegierig. Er strampelt sich schnell in die für ihn bis dahin neue Welt – und macht schon mit 13 den ersten Karriereschritt. In seiner Freizeit bastelt „Manni“ unentwegt Flugzeugträger aus Hartpapier, was eine Mitarbeiterin des Arbeitsamtes zu dem Schluss kommen lässt: „Hömma, wer immer so am Friemeln und am Fummeln ist, wird Goldschmied!“ Manfred erinnert sich lachend an diese Worte und ergänzt achselzuckend: „Tja und dann hab ich Goldschmied gelernt. Dreieinhalb Jahre Lehre bei Abeler auf der Hochstraße.“ Bereut hat er den Schritt nie, aber die Arbeitszeiten schmeckten ihm überhaupt nicht. „Da waren die anderen schon mit ihren Mädels am Baggerloch, da war ich noch am Feilen und Sägen“, erzählt er mit einem Augenzwinkern.
Es zieht ihn raus, ins Leben, unter Menschen. Vielleicht ein frühes Zeichen dafür, dass die Goldschmiedekunst nicht alles für ihn sein kann. Spätestens mit der Entdeckung der Jazz-Musik nimmt eine Vision seiner Zukunft konkrete Form an. „Das wollte ich auch machen! Und dann kriegte ich zu Weihnachten ein Banjo geschenkt“, berichtet er von diesem für ihn so wichtigen Moment. Die Eltern zahlten einen großen Betrag für das Instrument an, verpflichteten ihn aber, den Rest mit einer monatlichen Rate von seinem Lohn abzubezahlen. „Erziehungsmaßnahme!“, sagt er in seiner typisch einsilbigen, aber munteren Art. Mit Fleiß und Hingabe bringt er sich das Banjospielen bei und sucht nach Gleichgesinnten, um gemeinsam mit ihnen zu „klimpern“, wie er es in seiner maßlosen Zurückhaltung nennt.
Doch die wachsende Musikleidenschaft muss finanziert werden. Vielleicht lässt sich so erklären, wie der kreative Lebemann bei der Sparkasse landet. Irgendwas scheint er dort jedoch richtig zu machen, denn er bringt es bis zum Chefkassierer. „Ich musste ja nur richtig rausgeben“, resümiert er den Lebensabschnitt mit der ihm eigenen Nonchalance. Der Nine-to-five-Job gibt ihm die nötige Sicherheit, um seinen finanziellen Verpflichtungen nachzukommen und die Zeit, nebenher Musik zu machen. „Das war eine verrückte Phase: Beruf, Familie und Proben mit den Bands. Und am Wochenende drei bis vier Auftritte, von einem Job zum nächsten“, erzählt er ein Stück weit ungläubig über das damals geleistete Pensum. Doch seine Beharrlichkeit zahlt sich aus. Stück für Stück avanciert er in den Sechzigerjahren zur Größe in der Szene und freut sich über weltweite Engagements.
Manfreds Leben liest sich bis hierhin wie eine atemlose Lausbubengeschichte, aber es ist keinesfalls nur von Höhepunkten geprägt. Mit Anfang 50 verstirbt seine Frau nach kurzem, heftigen Krebsleiden völlig unvermittelt. Nur schmallippig gibt er über diese Zeit Auskunft, zu tief sitzt der Schmerz über den Verlust. Doch Manfred hat gelernt, wie man neu anfängt, er ist niemand, der mit seinem Schicksal hadert. Es scheint wie eine glückliche Fügung, dass mitten in der Trauerphase das Telefon klingelt und eine Stimme sagt: „Ich flieg nach New Orleans, haste Lust mitzukommen?“ Manfred zögert keine Sekunde. Neben inspirierender Musik, faszinierenden Menschen und einer einzigartigen, lebendigen Subkultur lernt er in der sagenumwobenen Küstenstadt seine dritte große Liebe kennen. „Barbara“, sagt er mit funkelnden Augen. Sie spricht kein Deutsch, er kaum Englisch, doch die Anziehungskraft ist so stark, dass sie jede Sprachbarriere überwindet. Wie das Schicksal es will, hat Barbara als Pianistin wenig später ein Engagement in Deutschland und so klingelt eines Abends Mannis Telefon: „Hello, this is Barbara, New Orleans.“ In Amerika sprühten die Funken, in Deutschland wird das Feuer entfacht. Die Emotionen sind so groß, dass die beiden 1998 heiraten. Zum Hochzeitstag schenkt der Mittfünfziger seiner Frau eine CD-Aufnahme. „Someone – Barbara Lane“ heißt der Tonträger. „Das ist was, da kannste einen Whiskey bei trinken. Alles selber geschrieben!“, schwärmt er.
Um die den Atlantik überbrückende Beziehung aufrechtzuerhalten, nutzt Manfred jede Gelegenheit, Sonderurlaub zu nehmen. Er geht für ein Jahr nach Amerika und erkundet New Orleans mit seinem Banjo. Jeden Tag spielt er im French Quarter mit Jazz-Größen wie Hack Bartholomew. Begeistert wie ein kleiner Junge erzählt er von einem Konzert in der Presarvation Hall, einem historischen Veranstaltungsort des New-Orleans-Jazz, bei dem er mit einer professionellen Jazzband auftritt. Seine eigene Profession als Musiker spielt er dabei genauso herunter wie seine Banktätigkeit. Er klimpere ja nur. „Das French Quarter in New Orleans ist ein kleines Viertel, multikulti, ein bisschen Europa, ein bisschen Lateinamerika, aber keiner tut dem anderen was. Wenn du aus dem French Quarter wieder raus bist, bist du wieder in Amerika“, erklärt er.
Barbara trägt in jenen Tagen die finanzielle Verantwortung nahezu allein, bis sie eines Tages auf eine Anzeige in der Zeitung stößt: Goldschmied gesucht. So kehrt Manfred nach 30 Jahren unerwartet zu seinen beruflichen Wurzeln zurück. „Change the size of this ring” – Ringweitenänderung, lautet die Prüfung, von der seine Einstellung abhängt. Seine Fähigkeiten glänzen mit dem Schmuckstück um die Wette und der Chef stellt ihn sofort ein. Nun kann Manni auch nach seinem Sonderurlaub weiter zwischen den Welten und den Berufen pendeln, dem Ruf des Jazz und der Liebe folgen.
„Ich habe ein Heidengeld verflogen“, sagt er, „so wollte ich meine paar Jahre noch zu Ende bringen und dann in den Vorruhestand gehen.“ 2008 war es soweit, ein halbes Jahr in Amerika und ein halbes Jahr in Deutschland. Doch mit zunehmendem Alter werden die besonderen Belastungen der Fernbeziehung immer größer. „Dann ist das mit der Ehe auf lange Sicht nicht mehr gut gegangen,“ fasst er lapidar zusammen. „Ist ja klar, viel zu weit auseinander. Wir sind jetzt Freunde.“ Aber es scheint eine Entscheidung der Vernunft, nicht des Herzens. Das musiziert immer weiter.
Auch heute noch. Manni macht Musik in gleich mehreren Krefelder Bands, Basin-Street-Jazzmen, Schmackes Brass Band und restauriert Banjos. Er zeigt auf ein Instrument mit vielen Schnitzereien und Intarsien: „Das ist von 1923, das restauriere ich, überleg mal, 100 Jahre alt!“ Der Handwerker ist voll in seinem Element. „Hömma, wenn jetzt Corona nicht so bescheuert wäre, wär‘ ich schon längst wieder drüben.“ Zur Ruhe kommt er nicht, das will er auch gar nicht. Engagements hat er bereits in Griechenland und bei den Borkumer Jazztagen eingeplant. Außerdem ist sein großer Wunsch, eine Reise mit seinem Sohn zu unternehmen, ohne großes Gepäck, einfach raus, so wie früher. „Wenn Corona vorbei ist, dann verbraten wir mal ein bisschen Geld“, sagt er, greift zum Banjo und fängt an zu klimpern: „Hey, Mr. Banjo, play a tune for me. Play, Mr. Banjo, a happy melody.“ Es ist der Sound- track seines Lebens. Viel zu voll für einen einzelnen Song.