Die Leidenschaft erfasste Günter Goebels als Heranwachsenden in allen Fasern, sodass ihm schnell klar war, dass sie von jetzt an fester Bestandteil seines ganzen Lebens sein würde. Multipliziert mit einer außergewöhnlichen, heute selten gewordenen Tugendhaftigkeit, entwickelte sich diese besondere Liebe zu einem aufopferungsvollen Engagement. Denn einen Großteil seines Lebens setzte sich Günter Goebels nicht nur für seinen Berufsstand ein, sondern stellt als einer der letzten Patroneure Krefelds auch heute im hohen Alter noch sicher, dass dieses besondere Handwerk, das untrennbar mit der Tradition der Seidenstadt verwoben ist, nicht in Vergessenheit gerät. Für das CREVELT Magazin hat der 79-Jährige sein Erinnerungsalbum geöffnet.
Hätte seine Mutter den kleinen Günter mit 13 Jahren gefragt, was eigentlich ein Patroneur den ganzen Tag mache, hätte der Junge wohl nicht antworten können. Den Volksschulabschluss im Jahr 1956 absolviert, stand das jüngste der vier Kinder auf dem Familienhof in Tackheide vor der großen Entscheidung, wie es sich beruflich orientieren wolle. Und dann ergab sich beim Kaffeekränzchen der Mutter ein spannendes Gespräch. „Eine ihrer Freundinnen wusste, dass ich gern zeichne“, erinnert er sich und imitiert die Plauderei der Frauen in erfrischendem Krieewelsch. „Irgendjemand kannte wiederum jemanden und die Frauen entschieden, dass ich mich doch da als Patroneur bewerben könnte. Einige Wochen später hatte ich ein Vorstellungsgespräch – den Beruf kannte ich aber immer noch nicht.“
Der Patroneur leistet gemeinsam mit dem Musterzeichner und dem Kartenschläger die wichtige Vorarbeit für das Weben von Stoffen. Entwirft der Musterzeichner das eigentliche Design, überträgt der Patroneur dieses in eine Art technische Zeichnung, die sogenannte Patrone, die dafür sorgt, dass der Kartenschläger die entsprechenden Karten für das Weben anfertigen kann. Der Patroneur bestimmt damit die Anordnung der Fäden – eine sehr komplexe und wichtige Aufgabe.
Bei seinem Vorstellungsgespräch wurde Günter Goebels zunächst einem Test unterzogen. In kleine Karos sollte er ein Muster übertragen. Mit seinen zeichnerischen Fähigkeiten stach er aus den 14 Mitbewerbern hervor und erhielt den Zuschlag der Verantwortlichen. Am 1. April 1957 begann seine Ausbildung als Patroneur im Atelier August Hoff auf der Lindenstraße 53, zwischen Westwall- und Hubertusstraße. Goebels war damals 14 Jahre alt. Auf klapprigen Stühlen und in engen Räumen machte er die ersten Schritte als Lehrling. Die Arbeitsabläufe waren dabei immer gleich: Wie bei einem Diaprojektor wird die Musterzeichnung auf den Tisch oder die Wand projiziert. Der Patroneur zeichnet mit Bleistift die Konturen ab und fertigt dann auf kariertem Musterpapier die Patrone an. Dafür malt er unzählige kleine Kästchen aus, die im Zusammenspiel dem Kartenschläger vermitteln, wie der Faden innerhalb des Stoffes verlaufen soll. Durfte sich Goebels zuerst an einfachen Mustern versuchen, wurde er schnell auch in den klassischen Arbeitsalltag einbezogen und fertigte in stundenlanger Kleinarbeit aufwändige Patronen an. „Ich merkte in nur wenigen Wochen, dass das genau der Ort war, an dem ich sein wollte“, erinnert er sich. „In der Volksschule habe ich mich nie wohlgefühlt. Hier aber interessierten sich die Lehrherren für mich, ich bekam Rückmeldung und Anerkennung. Das tat mir gut.“ Und das spornte Goebels‘ Ehrgeiz an.
Vor allem das Erkennen von Details stellt einen wichtigen Teil des Patronierens dar. Goebels nennt diese Eigenschaft „das Sehen“. Wurde der Junge in der Berufsschule zwar in den Fächern Bindungslehre, Materialkunde, Rechnen und Kunst unterrichtet, wollte er im Atelier beweisen, dass er das Lob und die Anerkennung verdient hatte und besonders gut sehen konnte. In Abendkursen bildete er sich im Freihandzeichnen an der Kunstgewerbeschule und einige Jahre später auch rund um die Jacquardwebstühle an der Textilingenieursschule weiter. „Die Kunstgewerbeschule half mir dabei, die Details anders zu erkennen“, beschreibt er. „Betrachten wir zum Beispiel eine Apfelblüte, dann müssen wir sie in all ihren unterschiedlichen Teilen sehen. Erst, wenn wir das können, können wir das technische Zeichnen optimieren.“
Mit dieser Weiterbildung entwickelte sich darüber hinaus ein weiterer Wunsch. Zwar war das Atelier Hoff das zweigrößte technische Atelier der Welt, doch Goebels zeichnete hier ausschließlich Stoffe für Kleidung, Dekoration oder Teppiche. Als die anspruchsvollste Aufgabe im Patronieren galten aber Krawattenstoffe – und die hatte das Hoff-Atelier nicht im Repertoire. Deswegen wechselte Goebels rund ein halbes Jahr nach Abschluss seiner Ausbildung zur Firma Ernst Engländer. „Eigentlich waren damals die Patroneure in Krefeld schon wieder langsam auf dem Rückzug“, beschreibt er. „Arbeitsstellen für gute Kräfte gab es über Kontakte aber immer.“
Goebels kennt die genauen Zahlen: Die meisten Ateliers für Webereien in Krefeld gab es um 1909. Damals hatten 34 Ateliers ihren Sitz in unserer Stadt. Rund 20 Jahre später, also im Jahr 1930, hatten sich die großen Ateliers durchgesetzt und die kleinen verdrängt. 17 an der Zahl waren übrig geblieben. 1963, als Goebels die ersten Berufsjahre schon hinter sich hatte, waren nur noch acht Ateliers für Webereien in Krefeld ansässig. „Krefeld blieb trotzdem auch noch Jahre danach das Mekka für Musterzeichner, Patroneure und Kartenschläger“, erklärt er. „Arbeitsstellen für sie gab es quasi nur in der Samt- und Seidenstadt.“
Mit seinem Wechsel zu Ernst Engländer lernte Goebels nicht nur, Krawattenstoffe zu patronieren, sondern er begann auch damit, sich für seinen Berufsstand einzusetzen. Aufgrund der schwankenden Zahlen in der Seidenindustrie wurden die Tarife für Patroneure und Kartenschläger immer wieder verhandelt. Goebels engagierte sich in der Gewerkschaft für eine faire Bezahlung. In den kommenden Jahren erreichte er so unter anderem, dass eine veraltete Tarifbedingung aufgehoben wurde. „Patroneure waren in vier Gehaltsstufen eingeteilt. Die vierte sollten aber nur diejenigen erreichen, die alle unterschiedlichen Stoffarten zeichnen konnten“, erklärt er. „Arbeitete ein Patroneur 20 Jahre immer im selben Atelier, in dem beispielsweise wie bei Hoff damals keine Krawattenstoffe gefertigt wurden, konnte er trotz der Berufserfahrung nie die vierte Stufe erreichen. Das fand ich ungerecht und ging dagegen vor.“
Goebels selbst hatte bereits in jungen Jahren nie Probleme, sein Gehalt zu verhandeln. Seine besonderen Fähigkeiten bescherten ihm schon früh eine überdurchschnittliche Bezahlung. „Damals mussten wir ja unser Einkommen zu Hause abgeben und so bekam ich nur Taschengeld“, erinnert er sich lachend. „Mein Vorteil war aber, dass ich dadurch ein Argument hatte, auch samstags Überstunden zu machen und so als einziger unter meinen Geschwistern nicht den Stall misten musste. Das hat sich für mich also gelohnt.“ Bereits mit 15 Jahren bekam der junge Mann 68 Pfennig pro Überstunde ausgezahlt – ein Bier an der Theke kostete, so weiß er auch heute noch ganz genau, nur 30 Pfennig und so war der Überstundenlohn außergewöhnlich hoch. Mit 21 Jahren verdiente der Patroneur dann sogar monatlich 624 DM, das waren rund 200 DM als im normalen Tarif.
Neben dem Engagement in der Gewerkschaft entschloss er, sich außerdem als Ausbilder qualifizieren zu lassen. Bereits in seinen 20ern wollte er dafür sorgen, dass durch einen hohen Qualitätsstandard in der Ausbildung auch andere junge Menschen die Chance hatten, einen guten Lohn zu erhalten. Darüber hinaus trieb ihn ein Versprechen an, das er in seiner Ausbildung dem eigenen Lehrherrn gegeben hatte: „Ich fragte ihn irgendwann, wie ich mich für die gute Ausbildung bedanken konnte und er erwiderte, dass ich mein Wissen weitergeben solle“, sagt Goebels und schiebt mit dem Finger seine Brille hoch. „Ich hielt mein Wort.“ Etliche Azubis zog Goebels groß und sorgte dafür, dass sie auf dem Arbeitsmarkt bestehen konnten. Aber die Zeiten für die Seidenindustrie sollten sich verändern. Nicht etwa mit der Einführung des Computers Anfang der 90er-Jahre kamen die Einbrüche, sondern durch die Billigherstellung in Asien wurden die Löhne Jahr für Jahr geringer und die Jobs rarer und rarer. „Viele Alteingesessene orientierten sich um und heute arbeitet nur noch ein einziger meiner ehemaligen Azubis als Patroneur“, erklärt der Krefelder. „Den Beruf in seiner ursprünglichen Form gibt es nur noch wenige Male in Deutschland.“