Defibrillatoren retten Leben

Das letzte Hemd hat keine Taschen – Weil Michaels Leben unbezahlbar ist

Für Michael Zillekens ist es die fünfte Jahreszeit, der Höhepunkt des Jahres, die Tage, auf die er sich leidenschaftlich fast zwölf Monate gemeinsam mit seinen Mitstreitern vorbereitet hat. Und deswegen war auch am Abend des 11. Februars 2017 die Vorfreude auf die Karnevalssession ungebrochen, als er auf der Bühne als Sitzungspräsident des Karnevalskomitees Lobberich durch den Abend der Prunksitzung führte. Zwischen etlichen Helaus, Funkemariechen und Tuschs hatte Michael die morgendlichen Kopfschmerzen schon längst vergessen, als sich sein Leben plötzlich komplett veränderte. „Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass ich in die Gesichter der ersten Reihe blickte, ich weiß noch, wer dort saß“, erinnert sich der heute 55-Jährige an den Abend vor vier Jahren. „Dann wurde mir auf einmal schwarz vor Augen.“ Hier enden Michaels Erinnerungen und das nicht grundlos, denn seine Sinne setzten aus. Vor seiner Frau Sylvia, vor all seinen Karnevalskollegen und vor mehr als 400 kostümierten, feiernden Gästen sackte Michael Zillekens auf der Bühne in sich zusammen und verlor das Bewusstsein. Der Kampf um sein Leben begann.

Michael Zillekens verdankt sein Leben einem AED – und dem geistesgegenwärtigen Einsatz eines Feuerwehrmannes.

Glaubten die ersten Zuschauer im Lobbericher Seerosensaal noch, dass Michaels Zusammenbruch zur Show gehöre, reagierten die Rettungskräfte im Raum schnell. Ein Oberarzt, der eigentlich zum Feiern hergekommen war, eilte zur Bühne und auch die Feuerwehr, die sich an der Tür des Raumes platziert hatte, erkannte die Gefahr. Während einige Helfer die Halle räumten, griffen andere geistesgegenwärtig zum AED und rissen Zillekens das Ornat auf, um die Wiederbelebung zu starten. „Als ich wieder zu mir kam, war das Erste, was ich hörte ‚Oh, da isser wieder′“, erklärt der 55-Jährige mit unbekümmerter Stimme und einem Lächeln, das fast wie gemalt wirkt. „Ich verstand die Situation natürlich nicht und wollte weiterfeiern.“ Erst, als er die leeren Bänke und die zwischen Aufregung, Verzweiflung und Konzentration schwankenden Blicke um sich herum wahrnahm, begann er langsam zu verstehen, dass etwas nicht stimmte. Das gesamte Ausmaß dessen, was passiert war aber, erklärte ihm erst der Arzt im Krankenhaus. „Jetzt hatte ich Angst“, sagt Zillekens und die Unbekümmertheit ist inzwischen aus seiner Stimme gewichen. „Ich hatte Angst einzuschlafen, weil ich befürchtete, nicht mehr aufzuwachen. 36 Stunden schlief ich nicht.“ 36 Stunden, in denen sich die Gedanken des Familienvaters überschlugen. Denn, so wurde ihm immer mehr bewusst: Hätte einer der Feuerwehrmänner am Nachmittag nicht einen Defibrillator in den Ausrüstungsrucksack gesteckt, dann hätte Michael den Abend an einem seiner Lieblingstage im Jahr nicht überlebt. Er wäre auf der Prunksitzung vor den Augen seiner Frau und seiner jahrelangen Wegbegleiter gestorben.

Chris Hillus hat Geschichten wie Michaels schon etliche Male erzählt, auch wenn er sie Gott sei Dank noch nie leibhaftig miterlebt hat. Seit elf Jahren verfolgt der Krefelder eine besondere Mission: Durch die bessere Verfügbarkeit von Defibrillatoren möchte er Leben retten. Dafür verkauft er im Namen von AED Krefeld als lokaler Anbieter Defibrillatoren und bringt darüber hinaus enorm viel Zeit für die Aufklärung auf. Er besucht Vereine, Unternehmen, Gastronomien und Kommunen, um nicht nur die Anwendung der Geräte zu erklären, sondern auch Lobbyarbeit dafür zu leisten, AEDs verfügbarer zu machen. „Genau wie Michael kann es jeden von uns treffen“, erklärt er. „Ein plötzlicher Herztod kennt weder Alter noch Fitnessgrad oder Gesundheitszustand. Er tritt einfach auf.“ Anders als bei einem Herzinfarkt, vor dem die Betroffenen häufig zum Beispiel ein beunruhigendes Stechen in der Brust oder ein Engegefühl spüren und es manchmal sogar noch selbstständig zum Arzt schaffen, tritt der plötzliche Herztod ohne Vorzeichen ein. Der natürliche Mechanismus des Herzens, also die Reizleitung, funktioniert auf einmal nicht mehr. Sollte das Herz eigentlich regelmäßig pumpen und dadurch Gehirn und Organe mit Sauerstoff und Blut versorgen, krampft und zuckt es nur noch unkoordiniert. Ohne den Stromstoß eines AEDs kann diese Störung nicht behoben werden. „Auch Notärzte und Rettungsdienste warnen davor, dass mit jeder Minute, die ohne die richtige Hilfe verstreicht, die Überlebenschancen des Betroffenen um rund zehn Prozent sinken“, weiß der Experte. Nach zehn Minuten also, in denen kein Defibrillator mit entsprechenden Maßnahmen wie der Herzdruckmassage eingesetzt wird, sind die Chancen, den Patienten zurückzuholen, aussichtslos. 

Auch für Chris Hillus ist der Tag im Februar 2017 noch heute ein Paradebeispiel für den so wichtigen Einsatz von AEDs, das ihn in seiner Aufgabe bestärkt. Denn während im Nachbarland, den Niederlanden, die AEDs öffentlich zugänglich in den Fußgängerzonen hängen, gibt es in Deutschland kein Gesetz, das die Verfügbarkeit der Lebensretter regelt. Es ist einzig und allein guter Wille eines Unternehmens, eines Vereins, einer Kommune oder einer Feststätte, die kleinen, Wunder wirkenden Geräte zugänglich zu machen. Hat Hillus schon Kommunen bei der Ausstattung mit Defibrillatoren betreut und auch Krefelder Institutionen mit AEDs ausgestattet, wie zum Beispiel zuletzt die Fitnessbox Factory Crefeldund die Zahnärzte am Friedrichsplatz, und der Belegschaft die Anwendung erklärt, trifft er immer noch auf Akteure, die keine Notwendigkeit dafür sehen. „Mein Lieblingsargument ist ,Das ist in den letzten 30 Jahren noch nie passiert, warum sollte es denn jetzt passieren?‘“, schildert der junge Mann und verdreht verständnislos die Augen. „Fakt ist, es sterben jährlich rund 100.000 Menschen allein in Deutschland am plötzlichen Herztod, weil nicht rechtzeitig Hilfe geleistet wurde. Verkehrstote gibt es übrigens nur rund 2.700. Wir sagen so oft ,Fahr vorsichtig!‘. Warum reagieren wir dann nicht auch an dieser Stelle?“ Und dabei sind die Anschaffungskosten eines AEDs fast lächerlich im Vergleich zum Wert eines Lebens. Selbst ein mittelständiges Unternehmen, so ist sich der Krefelder sicher, gibt im Monat mehr für den Einkauf von Kaffee aus, als ein Defibrillator kosten würde. Die Geräte sind in etwa so teuer wie ein guter Laptop.

Für Michael Zillekens ist der Wert des Gerätes, das ihm im Seerosensaal in Lobberich das Leben rettete, unbezahlbar. Schon als er im Krankenhaus wenige Stunden nach dem tragischen Vorfall auf der Intensivstation lag, zog sein Leben an ihm vorbei. Als sein damals elfjähriger Sohn Mark ins Zimmer kam und auf seinen Vater zustürmte, brachen alle Dämme. „Selbst als gestandener Mann hat mich der Gedanke, dass ich meinen Sohn beinahe nie wieder in den Arm hätte nehmen können, umgehauen“, erinnert sich der 55-Jährige. „Ich hätte einfach so viele wichtige Momente in seinem Leben verpasst, das hat schon an mir genagt.“ Voller Gedanken und Sorgen wurde Zillekens von der Intensivstation aus in die Herzklinik des Krefelder Helios gebracht. Die Ärzte stellten ihn auf den Kopf, um herauszufinden, warum sein Herz auf einmal den Rhythmus verlor. Sie steckten ihn ins MRT, machten Bilder im CT, führten einen Herzkatheter ein, aber am Ende überraschte das Ergebnis alle. „Es war an Altweiber, als die Ärzte mir sagten, dass es keine Diagnose gäbe“, erklärt er. „Ich stimmte zu, dass man mir einen ICD, einen Mini-Defibrillator dauerhaft einsetzte, aber notwendig war das nicht. Es war das einzige, was ich tun konnte, um einem weiteren Herzanfall vorzubeugen.“

Auch diese Geschichte hat Chris Hillus schon etliche Male erzählt. Junge Menschen sterben an plötzlichem Herztod. Profisportler, wie Christian Eriksen bei der EM, werden auf einmal getroffen. Der Kollege im Nachbarbüro mit Idealgewicht und Vorzeige-Work-Life-Balance kippt auf einmal um. Oder die Freundin beim Restaurantbesuch liegt plötzlich auf dem Boden. „Wusstest du, dass Liebeskummer zum Beispiel zu Herzproblemen führen kann“, fragt der Krefelder offen. „Es gibt so viele Gründe für einen Herz-Kreislauf-Stillstand. Und deswegen sollten wir uns auch bei der Anschaffung eines Gerätes immer mit dem eigenen Schicksal auseinandersetzen.“ Was Hillus konkret meint: Möchten wir, dass uns jemand hilft, sollten wir dafür Sorge tragen, dass auch wir helfen können. Nicht nur das Vorhandensein des Defibrillators trägt am Ende dazu bei, sondern auch der Mut, das Gerät einzusetzen. „Die wichtigste Botschaft ist dabei, dass du nicht falschmachen kannst“, erklärt Chris. Öffnet man nämlich den AED, gibt dieser vor, was zu tun ist. Mit ruhiger, mechanischer Stimme wird Schritt für Schritt die Anleitung zum Lebenretten geliefert. Dabei fungiert der AED erstmal nur als EKG. Er zeichnet die Herztöne des Betroffenen auf und gibt erst dann einen Stromstoß ab, wenn das Gerät die Notwendigkeit dazu sieht. „Niemand muss vor dem Einsatz des Gerätes Angst haben. Es ist tatsächlich kinderleicht zu bedienen“, schildert Hillus. „Ich möchte Menschen aufklären und handlungsfähig machen. Denn es ist eben nicht nur wichtig, einen AED zu haben, sondern auch, ihn im Ernstfall zu benutzen.“

Michael Zillekens sagt selbst, dass er vor seinem Unglück nicht gewusst hätte, wie ein Defibrillator einzusetzen ist. Bereits im Krankenhaus aber beschloss er mit seiner Frau Sylvia für die Anschaffung weiterer Geräte Spenden zu sammeln. Insgesamt schaffte er es so, in allen drei Karnevalsfesthallen in Nettetal AEDs zu installieren. Mit dem Schicksalsschlag im Februar 2017 hat sich aber nicht nur etwas an den Nettetaler Karnevalsspots verändert, auch Michaels Leben ist heute, so sagt er bedächtig, wertvoller geworden. Arbeitete er vorher 14 bis 16 Stunden täglich und verbrachte noch einmal zusätzlich mehr als zwei Stunden am Tag auf der Autobahn, um seinen Arbeitsplatz zu erreichen, wechselte er bereits wenige Monate nach seiner Wiederbelebung den Arbeitgeber. Der Beruf, so erklärt er, sei zwar weiterhin wichtig, viel unentbehrlicher seien aber die Momente mit den Menschen geworden, die er liebt. Michael hat sich zum Moment-Genießer entwickelt: Feiert er Hochzeitstag mit seiner Frau, sucht er im Restaurant den leckersten Wein aus und trinkt statt einem Glas auch gerne einmal zwei. Ist der Abend mit Freunden besonders schön, bleibt er lieber eine Stunde länger auf und ist am nächsten Tag auf der Arbeit ein bisschen erschöpft, statt die gute Zeit vorschnell abzubrechen. Hat er nach dem Urlaub im Süden Lust, einen Pool zu bauen, beginnt er wenige Tage nach der Rückkehr mit der Planung und schiebt seine Wünsche und Ideen nicht mehr auf die lange Bank. „Früher habe ich meine Oma immer für den Spruch belächelt, aber heute weiß ich, dass sie den Wert des Lebens schon lange vor mir erkannt hat. Das letzte Hemd hat keine Taschen“, sagt Michael Zillekens ruhig und lässt seine Hand durch das Fell seiner Goldendoodledame Lissy gleiten. 

Helfen Sie mit und retten Sie Leben: Ein Aufklärungsplakat rund um AEDs zum Download finden Sie online auf www.defi-krefeld.de/gratis-material oder über den QR-Code.

Gemeinsam mit dem Team von AED Krefeld bietet Chris Hillus Schulungen rund um den Umgang mit Defibrillatoren an und berät beim Gerätekauf. Telefon 02151 93 70 70, www.defi-krefeld.de

Artikel teilen: