In Deutschland geboren, auf der ganzen Welt aufgewachsen und heute in Krefeld beheimatet, arbeitet Annette Sickert Karam als Trainerin und Coach für Interkulturelle Kompetenz und Teamentwicklung. Das, was sich hinter der sperrigen Berufsbezeichnung verbirgt, setzt einem spannenden Lebenslauf die berufliche Krone auf.
Wenn Annette Sickert Karam über Ehrlichkeit spricht, dann meint sie damit, dass sie immer gerade heraus sagt, was sie fühlt und denkt. Egal, ob in der Partnerschaft oder im Beruf: Stört sie etwas oder weiß sie umgekehrt eine Eigenschaft besonders zu schätzen, dann möchte sie das kommunizieren. Denn Ehrlichkeit ist für die 50-Jährige einer der wichtigsten Werte im Leben. Auch Humberto, ihr brasilianischer Mann, würde diese Rangfolge für sich selbst bestätigen. Fragt der Zuhörende ihn aber nach seiner Definition von Ehrlichkeit, fällt die Antwort ganz anders aus als die seiner Frau. „Ehrlichkeit bedeutet für mich, mich an das Gesetz zu halten“, erklärt er. Zwei Menschen, beide in unterschiedlichen Kulturkreisen sozialisiert, ein Wort, zwei Bedeutungen. „Und genau das ist es, was menschliche Beziehungen so spannend gestaltet“, erklärt Annette Sickert Karam.
Schon mit sechs Jahren packte Annette Sickert Karam in Krefeld zum ersten Mal ihre Kartons, um ins Ausland zu ziehen. Ihr Vater, damals bei Bayer beschäftigt, nahm einen Job in Pittsburgh an und mit Sack und Pack ging es in die Vereinigten Staaten von Amerika. Für das Mädchen waren diese Jahre prägend. Vor allem der erste Schulbesuch hinterließ bleibende Spuren in der Entwicklung ihres eigenen Wertesystems. „Ich hatte damals wirklich Probleme, mich in der Schule zurechtzufinden. Nicht nur der Schulalltag war für mich neu, sondern auch die Sprache“, erinnert sie sich. „Die Lehrerin lud dann meine Mutter ein, sich ein paar Tage zu mir zu setzen. Das erleichterte mir den Einstieg ungemein.“ In Deutschland wäre so etwas nie vorstellbar, in den USA war es ganz einfach. Für die heutige Krefelderin beschreibt diese Erfahrung die amerikanische Art zu leben.
Beziehungen seien unkomplizierter, Freundschaften weniger an Anforderungen geknüpft und anders als in Deutschland stünde Regelkonformität nicht so sehr im Vordergrund.
Nach drei Jahren in Amerika in die deutsche Heimat zurückgekehrt, spürte Sickert Karam diese Unterschiede wie einen Verlust. Zügig wurde die Sehnsucht durch eine Getriebenheit ersetzt. Mit 13 Jahren, nur vier Jahre nach der Heimkehr, bewarb sich die Schülerin bei einem Austauschprogramm. „Ich war natürlich viel zu jung und sie sagten mir, ich sollte in drei Jahren noch einmal anklopfen“, erinnert sie sich. „Das hat mir gar nicht gepasst.“
Mit 16 Jahren durfte Annette Sickert Karam dann endlich wieder losziehen. Ihr Weg führte sie nach Uruguay. Anders als die anderen Austauschschüler, die in der Hauptstadt Montevideo untergebracht wurden, lebte ihre Familie in Melo – einer Kleinstadt mit fast genauso vielen Pferden wie Menschen. „Ich war zuerst enttäuscht, aber heute bin ich sehr dankbar für diese Erfahrung“, schildert sie. Denn Sickert Karam erfuhr hier das „echte“ uruguayische Leben. In Melo gab es weder andere Austauschschüler noch Zugezogene. Die 16-Jährige war, trotz ihrer dunklen Augen und ihrer dunklen Haare, prominent in der Stadt, fand schnell Kontakte und lernte die Rituale und Werte der Menschen kennen.
Es war auch in dieser Zeit, als Sickert Karam zum ersten Mal ihrem späteren Mann Humberto begegnete. Zum Abschluss des Austausches reiste die Gruppe zehn Tage nach Brasilien. Humbertos Familie empfing die Gäste. „Er hat mir später erzählt, dass er damals, als ich aus dem Bus ausgestiegen bin, zu seinem Vater gesagt hat, dass dort die Frau ist, die er später einmal heiraten wird“, erzählt sie und lacht. „Für mich war das eher ein Urlaubsflirt. Ich war jung und glaubte nicht daran, dass eine Beziehung zwischen zwei unterschiedlichen Kontinenten irgendwann funktionieren könnte.“
Zurück in Deutschland, ging Sickert Karam weiter ihren Weg. Sie studierte Englisch, Spanisch und Französisch auf Lehramt, genoss das Studentenleben in vollen Zügen. Aber auch Humberto ging ihr nicht aus dem Kopf. Flüchtig hielten der Brasilianer und die Deutsche Kontakt und als Sickert Karam mit einer Freundin nach Südamerika in den Urlaub reiste, plante sie fest ein, den alten Freund zu besuchen. „Ich erzählte von meinen Plänen nichts und als ich ihn dann vor vollendete Tatsachen stellte, sagte er mir, dass er zu dieser Zeit gar nicht im Land sei“, erinnert sie sich. „Puh, war ich enttäuscht. Und daran merkte ich, dass er mir wohl doch mehr bedeutete, als ich mir eingestehen wollte.“
Das war der Startschuss eines riesengroßen Hin und Hers. Wie jedes internationale Paar standen auch die beiden mit Anfang 20 vor der Herausforderung, kulturelle und räumliche Entfernungen zu überbrücken. Wie sollten die Liebenden lernen, ob Alltag miteinander funktionieren könnte, wenn die gemeinsame Zeit immer so kurz war, dass sie Urlaub blieb und nie den Alltag erreichte, fragte sich auch die Studentin. Mit 23 Jahren, nach Ende ihres Grundstudiums, entschied sich Sickert Karam deshalb, vorerst nach Brasilien auszuwandern.
„Und da waren wir Zwei, füreinander bestimmt und dennoch völlig unterschiedlich kulturell gepolt“, beschreibt sie und schmunzelt erneut. „Wir stritten uns, dass die Fetzen flogen. Nicht, weil wir uns nicht mochten, sondern vor allem, weil wir uns in der Kommunikation einfach noch nicht kannten und verstanden. Hier lernte ich zum ersten Mal als erwachsener Mensch, wie wichtig unsere kulturelle Sozialisation ist.“ Während Sickert Karam mit ihrer halb-deutschen, halb-amerikanischen Sozialisierung gewöhnt ist, Humberto zu sagen, wenn sie etwas in der Beziehung stört, nimmt Humberto die Kritik als verletzenden Angriff auf. Niemals würde ein Brasilianer unverblümt seine Meinung äußern, viel eher geht es in seiner Kultur darum, das Gesicht zu wahren, im Ernstfall selbst zurückzustecken und alles, wirklich alles für die Harmonie zu tun.
Auch die Bedeutung von „Versprechen“ sorgte für Missverständnisse. Während Annette Sickert Karim sich die ganze Woche auf einenKurztrip am Wochenende freute, weil ihr Humberto in einer ruhigen Minute versprochen hatte, wegzufahren, hatte er sein Versprechen am Freitag schon wieder vergessen. „In der Enttäuschung flogen auch schonmal Tassen und Teller“, erinnert sich die sympathische Krefelderin. „Es hat Zeit gebraucht, bis wir uns aneinander gewöhnten.“
Auch die Suche nach einem gemeinsamen Lebensmittelpunkt schien schwer. Unterscheidet das internationale Paar die kulturelle Herkunft, vereint sie doch die Getriebenheit. Innerhalb von 15 Jahren zogen sie insgesamt sieben Mal um, mal aus beruflichen Gründen, mal aufgrund von Visabestimmungen und manchmal auch, weil sie sich an einem Ort schlichtweg nicht wohl fühlten. In dieser Zeit wurde auch Sohn Lars geboren. Dabei pendelten sie zwischen den USA, Brasilien und Deutschland hin und her. Aus jeder Stadt, von jeder Haltestelle ihrer Beziehung, nahmen sie Freundschaften, Erinnerungen und Prägungen mit. „Wenn du so viel unterwegs bist, dann entspricht deine Mentalität am Ende nicht nur noch der deiner Herkunft“, beschreibt Sickert Karam. „Wir sind ein bisschen brasilianisch, ein bisschen deutsch und ein bisschen amerikanisch. Das führt aber auch dazu, dass wir manchmal Probleme haben, uns in einem Land wirklich zu Hause zu fühlen.“
Heute leben die „drei Musketiere“, wie Sickert Karam den Familienverbund liebevoll getauft hat, schon seit sieben Jahren wieder in Deutschland. Lebensmittelpunkt ist eine wunderschöne Dachgeschosswohnung in einem französischen Haus in der Innenstadt geworden. Als die Familie die USA verließ, um vorerst endgültig nach Deutschland zu kommen, ließ sich Sickert Karam in Köln zur Trainerin und zum Coach für Interkulturelle Kompetenz und Teamentwicklung ausbilden. Hier kann sie nun auch beruflich all das ausleben, was sie in ihrer Zeit im Ausland und in ihrer besonderen Familienkonstellation gelernt hat. Die Krefelderin zeigt nun Unternehmen, die zum Beispiel internationale Fusionen eingehen, wie die jeweils andere Kultur tickt, nimmt Vorurteile, öffnet Verständniswege füreinander und verdeutlicht, wie Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft voneinander profitieren können. „Für mich ist das der perfekte Beruf, denn irgendwie bleibe ich so ja trotzdem mit meiner Leidenschaft für andere Kulturen in Verbindung“, beschreibt die 50-Jährige.
Privat haben Humberto und Annette Sickert Karam ihr Glück gefunden. Zwar ist Krefeld vorerst zum Zuhause geworden, die Getriebenheit scheint aber nur vorübergehend zu ruhen. Wer die beiden miteinander beobachtet, ist schon fast berührt von der auch noch nach 25 Jahren anhaltenden Verliebtheit und dem Vertrauen, das zwischen der Deutschen und dem Brasilianer zu spüren ist. Heimat, so drängt sich dem Beobachter auf, ist für Annette und Humberto nicht mit einer Postleitzahl verbunden. Heimat bedeutet für sie, zusammen an einem Ort zu sein.