Die Marktstraße. Städtisches Treiben. Hupende Autos auf der Jagd nach einer Parklücke, drängelnde Passanten vor Supermärkten, Bäckereien und Imbissbuden. Doch nur wenige Meter entfernt des Tumults liegt die Schwelle in eine andere Welt, in der die Uhren langsamer ticken. In einem Hinterhof an der Roßstraße macht ein kleines rotes Logo, ein alter Stuhl, auf den Wirkungsraum von Christoph Tölke aufmerksam: Seit 2014 geht der staatlich geprüfte Restaurator und Tischlermeister in einer großen Halle seinem Handwerk nach. Wer die Klingel an der Halle zum Läuten bringt, trifft nicht nur auf einen unerwarteten Rückzugsort im schnelllebigen Getümmel, sondern auch auf einen Mann, der diesen Kontrast geradezu verkörpert. Zurückhaltend öffnet der Krefelder das schwere Tor und gebietet Einlass in ein Universum voller Geschichten und versteckter Werte aus längst vergessenen Zeiten.
Als Sohn einer Krefelder Unternehmerfamilie wurde Christoph Tölke in den 60er-Jahren geboren. Schon früh fühlte sich der Junge zu eher ungewöhnlichen Dingen hingezogen. „Eine meiner schönsten Erin- nerungen sind die Wochenenden mit meinem Großvater im Wald“, erinnert er sich. Zu ihm spürte Tölke eine besondere Verbindung, denn trotz seiner beruflichen Eingebundenheit widmete sich der Senior dem Jungen mit Zeit und Verständnis. Die beiden teilten viele Interessen, genau wie sein Enkelsohn liebte Tölke senior den Sport und die Natur. Gemeinsam entdeckten sie am Wochenende den Gelderner Forst, schlichen über selbst angelegte Pirschpfade, beobachteten von Hochsitzen aus die Wildtiere und genossen die sich mit den Jahreszeiten verändernden Gerüche und Vegetationen. Schon damals begeisterten den Heranwachsenden die natürlichen Materialien, denen er hier begegnete. Nach dem Abitur war es deswegen auch seine Liebe zum Holz, die seine Berufswahl bestimmen sollte.
Zunächst nahm Tölke ein Forstwirtschaftsstudium in den Blick. „Aber ich habe schnell gemerkt, dass ich da eigentlich gar nicht so richtig etwas mit der Natur zu tun habe, sondern fast nur im Büro sitze“, erklärt er. Anschließend beschäftigte er sich mit dem Beruf des Holzkaufmanns, aber auch dieser war ihm zu theoretisch. Schlussendlich entschied er sich für eine Ausbildung als Tischler in einem kleinen Betrieb in Geldern, dem wohl ursprünglichsten Beruf mit Holz. „Ich lernte hier in einer schlichten Bau- und Möbelschreinerei, aber der erste Teil meiner Ausbildung bestand eigentlich darin, mich erst einmal sozialisieren zu lassen“, erzählt der 58-Jährige lachend. Das Handwerk war damals geprägt von Männern und der Ton dementsprechend ehrlich. Tölke genoss seine Ausbildung, saugte das Handwerk förmlich in sich auf, wollte jeden Griff genau verstehen und verinnerlichen. Schon während der Lehre regte sich in ihm der Wunsch, sein Verständnis für Materialien auf ein noch professionelleres Fundament zu stellen. Mit Abschluss der Tischlerlehre suchte er deswegen Hans-Dieter Oelgart auf, der in seinem Keller im schwarzweißen Haus an der Moerser Straße noch heute an alten Antiquitäten arbeitet, und begann bei ihm als Praktikant.
Ich sorge dafür, dass das Alte seinen Wert behält.
Das Berufsbild des Restaurators war zu dieser Zeit noch jung. Erst 1966, als der Arno über die Ufer trat und die Flutkatastrophe in Florenz wertvolle Zeitzeugnisse, wie die Loggia dei Lanzi, die Biblioteca Nazionale oder Santa Croce, zerstörte, entstand ein offizieller Leitfaden für Denkmalpflege und Konservatoren, die „Carta von Venedig“. Als Folge wurde im gleichen Jahr die berühmte Restauratorenschule Italiens gegründet, in der fortan gelehrt wurde, wie bei der Aufarbeitung von historischen Kunstwerken und Möbeln vorgegangen werden soll. Erst kurz vor der Wende aber gelangte die Berufsausbildung unter privater Initiative auch nach Deutschland. Alfred René Göring eröffnete als Pionier der Restaurierungsausbildung nach jahrelanger Vorbereitung im Jahr 1984 die „staatlich genehmigte Fach- schule Goering Privat-Institut e.V.“, die 1987 zur „staatlich anerkannten Fachakademie zur Ausbildung von Restauratoren Goering Institut e.V.“ umgetauft wurde.
Während sich Oelgart als junger Mann alle notwendigen Fähigkei- ten selbst beibringen musste, empfahl er seinem Zögling Mitte der 80er-Jahre, nach München zu gehen. Tölke, den das Handwerk des Lehrmeisters begeisterte, folgte seinem Rat. „Das war eine tolle Zeit, denn meine Liebe zu den Materialien bekam nach der praktischen Ausbildung nun auch ein wissenschaftliches Fundament“, erinnert sich der Restaurator. Die Fachakademie beauftragte die besten Lehrer: Der junge Mann lernte mikroskopische Holzanalyse, beschäftigte sich mit der Skulpturenlehre, paukte Chemie und Kunstgeschichte und sammelte nebenbei wichtige Berufserfahrung in Münchener Restaurierungswerkstätten. In dieser Zeit entstand auch sein Credo: Als Restaurator, so predigt er, ist es seine Aufgabe, so viel vom Original zu erhalten wie möglich und Dinge so zu ergänzen, dass beim näheren Hinsehen die Restaurationsarbeit zwar erkennbar ist, das Kunstobjekt jedoch weiterhin als ästhetische Einheit wahrgenommen wird. „Wir schaffen nichts Neues, sondern wir sorgen dafür, dass das Alte seinen Wert behält“, schildert er. „Das ist unsere besondere Herausforderung.“ Obwohl ihm München viel lehrte und gab, entschied er sich nach dem Studium, mit seiner jungen Familie zurück in die Heimat zu ziehen. 1992 machte er sich im Konventkloster in Hüls selbstständig.
Dort begann nun ein neuer Zeitabschnitt. Tölke startete mit dem Grundauftrag des Restaurators: der Aufarbeitung von Möbeln. Durch seine bodenständige, zurückhaltende und professionelle Art baute er sich einen immer breiter werdenden Kundenstamm auf. Nicht nur das Handwerk prägte damals seinen Alltag, fast genauso viel Raum fanden Recherche und Weiterbildung. Steht ein Möbelstück vor dem Restaurator, ist bis heute sein erster Schritt der Annäherung, ein Gefühl für die Zeit zu entwickeln, aus der es stammt: Wie wurde damals gearbeitet? Welche Materialien und Techniken wurden genutzt? Und was kann er als Restaurator tun, um – wenn nötig – zu ergänzen oder zu erhalten, ohne dabei gleichzeitig zu zerstören?
Mit seiner verantwortungsvollen Arbeitsweise stieß Tölke auf großen Zuspruch und schon nach wenigen Jahren breitete sich in der Seidenstadt ein neuer Schaffensbereich vor ihm aus: die Denkmalpflege. Für den Restaurator erschloss sich eine ganz neue Welt. Auf einmal galt es, große Projekte logistisch vorzubereiten und andere Gewerke, wie Dachdecker und Fassadenmaler, zu beauftragen und zu beaufsichtigen. Aus dem Ein-Mann-Betrieb in Hüls wurde schnell ein Unternehmen mit fünf Mitarbeitern in größeren Räumlichkeiten auf der Roßstraße. „Schon als Kind habe ich im Elternhaus erlebt, wie es ist, ein Unternehmen zu führen, aber als Restaurator ticke ich doch anders“, beschreibt er. „Das, was wir hier machen, lässt sich nur schwer in Geldsummen beziffern. Wir arbeiten für eine Vision.“ Um überhaupt im Denkmalschutz Aufträge zu erhalten, ist oft wo- chenlange Vorbereitung notwendig. Tölke wälzte Fachbücher, holte Fremdangebote ein, beriet sich mit seinen Mitarbeitern rund um Vor- gehensweisen und Arbeitsschritte und prüfte die Beschaffenheit und Materialien im Labor. „All das ist unbezahlte Vorarbeit“, beschreibt er die Jahre in der Denkmalpflege weiter. „Und wenn dann der Auftrag kommt, beginnt die eigentliche praktische Arbeit.“
Tölke liebt diese Magie: Monatelang sanierte er zum Beispiel Teile des neugotischen Schlosses Drachenburg in Königswinter oder widmete sich dem Patrizierhaus „Haus Cleff“ in Remscheid. Auch in Krefeld hinterließ er Spuren: Er restaurierte nicht nur in vielen Privathäusern, sondern nahm sich auch der Fenster des Atelierhauses von Joseph Maria Olbrich auf der Hüttenallee, der Parkettböden der Häuser Lange und Esters und des dazugehörigen Gartenhauses an. Dabei begegnete er immer wieder Menschen, die in ihrer Liebe zum Alten und in ihrer Begeisterung für Historisches genauso leidenschaftlich waren wie der Restaurator. Und schaffte es außerdem, die Herausforderung eines wachsenden Unternehmens zu meistern. „Irgendwann aber wurde der Wunsch stärker, mich auf das zu besinnen, wofür ich angetreten war,“ erinnert sich der Restaurator: „die Arbeit mit Möbeln und Holzobjekten.“ Bewusst innezuhalten und über Entwicklungsschritte nachzudenken, hatte schließlich damals schon nach dem Übertreten des Arnos die alten Schätze gerettet.
Heute restauriert Tölke auf rund 100 Quadratmetern wieder ge- schichtsträchtige Möbel und Holzobjekte, berät Auftraggeber und Denkmalbehörden fachlich bei der Planung von Denkmalmaßnahmen und freut sich über jedes wertvolle Objekt, das er bearbeiten darf. Ein barocker Kinderstuhl aus dem 18. Jahrhundert aus Frankreich wartet gerade auf seine flinken Hände, genauso wie ein altes Tafelklavier, das ein Sammler dem Restaurator in Auftrag gegeben hat. Während Tölke über die Herkunft des französischen Stuhls schwärmt, trägt er ein schickes Filzsakko, einen edlen Schal und eine charakterstarke Rundbrille. Unter seinem Jackett aber blitzt ein dicker Norwegerpulli hervor, warme Stiefel kleiden seine Füße und ein wenig Dreck unter den Fingernägeln zeugt von der vielen Handarbeit. Tölke hat viel mit den Schätzen, die er Tag für Tag so sorgfältig bearbeitet, gemein. Um zu diesem Schluss zu kommen, muss man freilich erst sein Versteck finden und den Schritt durch das schwere Tor wagen und hinter die unscheinbare Fassade schauen: So wie Tölke antike Kost- barkeiten von den Schichten befreit, die sich über die Jahrhunderte auf ihnen angesammelt haben, um ihren Wert sichtbar zu machen.