Die Zeit, die bleibt

Marks Endgegner

Der 30. Geburtstag gilt als der Moment, in dem wir dem Erwachsenwerden nicht mehr davonlaufen können und uns den ernsteren Aspekten des Lebens zuwenden sollten: Karriere, Familie, Altersvorsorge. Es ist die Phase, in der Träume zu Plänen werden, ambitionierteren oder bescheideneren. Der 30-jährige Mark Glabutschnig-Semrau wünscht sich nichts so sehr, wie noch einmal Weihnachten mit seiner Familie feiern zu dürfen. Es ist ein bescheidener Wunsch, aber gleichzeitig der ehrgeizigste, den man sich vorstellen kann. Mark ist unheilbar an Krebs erkrankt. Und ihm bleibt nicht mehr viel Zeit. 

Marks Kampf gegen den Krebs beginnt vor fünf Jahren: „Ich hatte seit mehreren Tagen keinen Stuhlgang gehabt, doch mir nichts dabei gedacht. Auf der Fahrt zur Arbeit bekam ich dann Fieber und Schweißausbrüche“, berichtet er von dem schicksalhaften Tag. In der folgenden Notoperation springt er dem Tod soeben noch von der Schippe: Sein Darm ist bereits durchbrochen, der Bauchraum von einer Sepsis befallen. „An den Moment, als mir gesagt wurde, dass ich Darmkrebs habe, kann ich mich kaum noch erinnern. Ich war noch völlig benommen von der Operation“, blickt Mark zurück. Es schließen sich mehrere Eingriffe an, ihm wird ein Stoma gelegt, ein künstlicher Darmausgang, der ihn bis heute begleitet und dem er einen eigenen Instagram-Kanal gewidmet hat, sowie ein Port, über den er künstlich ernährt wird. „Ich habe während der Krebstherapie jeden Stein genommen, den das Leben auf mich geworfen hat, und ihn zurückgeworfen, mich nicht hängenlassen, sondern den Kampf angenommen“, fasst er die harte Zeit zusammen. Und er wird für den Einsatz belohnt: 2017 bekommt er die glückliche Nachricht, dass er krebsfrei ist. In dieser Phase lernt er auch seine heutige Ehefrau Monique und ihren kleinen Sohn Miles kennen. „Über das Internet, wie das heute so ist“, lacht er. Er verlagert seinen Lebensmittelpunkt von Kamp-Lintfort, wo er aufgewachsen ist, nach Krefeld, um mit Monique zusammenzuziehen. Im Sommer 2019 geben er und seine Lebensgefährtin sich das Ja-Wort. Es soll ein Neuanfang sein, doch nur wenig später folgt die niederschmetternde Diagnose: Der Krebs ist zurück, hat metastasiert und unter anderem Lunge, Bronchien und Nieren befallen. Endstadium. Keine Chance auf Heilung.

Mark wird 1990 als jüngster von drei Söhnen geboren, absolviert zunächst eine Ausbildung zum Bäcker, bevor es ihn dann zum Bund nach Münster verschlägt, wo er als Fahrer stationiert ist. Der Niederrhein und das nahe Ruhrgebiet haben jeden mundartlichen Einfluss getilgt, den sein österreichischer Vater hätte ausüben können: Der für unsere Region typische Akzent verstärkt noch den trotzig-munteren Eindruck, den Mark hinterlässt. Er nimmt sein Schicksal mit Galgenhumor, als sei er lediglich Opfer eines ärgerlichen Streichs geworden. „Der Drops ist gelutscht“, fasst er seine begrenzten Zukunftsaussichten einmal markant zusammen. Von einst 90 Kilogramm sind noch 57 übrig geblieben und es wurmt den ehemaligen Fußballer, dass er weniger Gewicht auf die Waage bringt als seine einen Kopf kleinere Gattin. „Ich verschwinde langsam“, lächelt er. Sich aufrecht zu halten, fällt ihm schwer, er sitzt gebeugt, für längere Wegstrecken fehlt ihm längst der Atem. Als Mark seinem Arzt kürzlich berichtete, wie viel Blut er ausgespuckt hat, habe der nur noch den Blick gesenkt. Der Krebs hat sichtbare Spuren hinterlassen, aber er hat das Jungenhafte, das in Marks spitzbübischem Lächeln und seinen wachen Augen steckt, nicht auslöschen können. Ebenso wenig wie seinen Kampfgeist.

Denn Mark hat noch viel vor. Im Sommer ist er mit der ganzen Familie noch einmal in Österreich, wo er viele Urlaube seiner Kindheit verbracht hat. „Ich habe es da ein bisschen übertrieben“, schmunzelt er. „Nach sieben Tagen Urlaub war ich so erschöpft, dass ich mich davon zwei Wochen erholen musste.“ Unbedingt will er mit Monique und Miles dieses Jahr noch einmal nach Norderney, um das Meer zu sehen, und er hofft, im Kreise der Liebsten noch ein schönes gemeinsames Weihnachtsfest verbringen zu können. Sich gehen zu lassen, sich einzuschließen oder Trübsal zu blasen, kommt nicht in Frage, dafür sorgt auch Monique. „Wir machen immer irgendetwas. Gestern haben wir ganz spontan das Badezimmer gestrichen“, berichtet sie aus dem kostbar gewordenen Familienalltag. Beide wissen, dass das auch eine Flucht ist: Bloß nicht aufs Gedankenkarussell steigen, wie Mark es nennt, sondern immer in Beschäftigung bleiben. Auch der lästige Papierkram, der noch zu erledigen ist – Patientenverfügung, Nachlassregelung, Versicherungen – hilft ihm dabei, sich vom Unausweichlichen abzulenken.

Monique ist der Fels in der Brandung.

Aber die Gedanken kommen natürlich. Nachts, wenn Mark vom Krebsschmerz geplagt wird, einem Gewicht, das auf seiner Brust sitzt wie der Albdruck, ihm den Atem raubt und ihn wachhält. „Ich bin reizbarer geworden“, gesteht Mark. „Wenn es mich erwischt, fange ich an zu fluchen und zu schimpfen oder ich lasse meine Wut an Gegenständen oder der Wand aus.“ Monique betrachtet es als ihre Aufgabe, ihn dann wieder einzufangen. „Ich sage ihm ganz klar, dass er seine Launen nicht an uns auslassen kann. Und er versteht das meistens auch und beruhigt sich wieder.“ Die Kundenberaterin ist Vollzeit zu Hause, kümmert sich darum, dass alles geregelt wird, und erinnert ihren Gatten an die Verantwortung, die er als Familienvater immer noch hat. „Ich habe keine Zeit, die Nerven zu verlieren“, resümiert sie pragmatisch. Die Rolle des Felsens in der Brandung hat sie voll angenommen. Wenn die Last für sie zu groß wird, sie reden muss, geht sie zu einer Freundin, um Mark nicht mit ihren Sorgen zu belasten. Sie muss stark sein, nicht zuletzt für Miles, der mit seinen sechs Jahren noch gar nicht versteht, was gerade passiert. „Ich habe ihm gesagt, dass ich bald ein Engel sein werde und dann vom Himmel aus auf ihn aufpasse“, berichtet Mark vom Gespräch mit dem Stiefsohn. „Er fand das cool und wollte wissen, ob ich ihm dann beim Sportunterricht helfe. Ich merke, dass er in letzter Zeit häufiger meine Nähe sucht, mit mir kuscheln will und mich darum bittet, ihm etwas vorzulesen oder mit ihm zu singen. Es ist seine Art, von mir Abschied zu nehmen.“ Wie dieser Abschied aussehen wird, darüber hat Mark in den letzten Wochen viel nachgedacht. „Es ist komisch, sich Gedanken über die eigene Beerdigung zu machen“, gesteht er. „Zuerst hatte ich ganz genaue Vorstellungen, aber ich habe sie dann alle wieder verworfen. Das ist alles nicht so wichtig. Und ich möchte meiner Familie auch keine Kosten für meine Eitelkeit hinterlassen.“ Lieber die Zeit, die bleibt, zusammen voll genießen. Auch Corona hält Mark davon nicht ab: „Ich kann auf die Pandemie keine Rücksicht nehmen. Ich habe nur noch diese Zeit und sie kommt nicht wieder.“

Er will sie möglichst wach erleben, Betäubung ist für ihn keine Option. „Ich könnte mir Morphiumpflaster gegen die Schmerzen verschreiben lassen, aber ich möchte die Kontrolle über meinen Körper nicht verlieren. Ich will fühlen, wenn mir die Luft wegbleibt, damit ich dagegen ankämpfen kann“, erklärt er. Er erinnert sich noch an das Morphium im Krankenhaus. „In meinem Bett bin ich Pilot gewesen und alle, die mich besucht haben, sind mitgeflogen“, lacht er. Schon als Jugendlicher hat er keine Party ausgelassen und er weiß, dass er von den Betäubungsmitteln reichhaltigen Gebrauch machen würde, wenn er sie zur Verfügung hätte. Aber er möchte da sein, wach sein, mitbekommen, was mit ihm passiert. Den Traum vom Tod als sanftes, friedliches Entschlummern träumt auch er. „Das Schlimmste wäre es, nachts elendig zu ersticken“, beschreibt er seine Ängste. Aber er macht sich auch keine Illusionen über den Moment: „Wenn es soweit ist, werden Notärzte kommen, hier wird ein riesiger Trubel sein. Meine Frau wird erst später Gelegenheit haben, sich von mir zu verabschieden, da sollte sie sich keine falschen Vorstellungen machen.“ Mark sagt das, als ginge es bei seinem Tod gar nicht um ihn. 

Vor kurzem haben seine alten Fußballfreunde vom SV Alemannia Kamp ein Fußballturnier für ihn ausgerichtet. Sogar der alte Keeper, der Mark damals beim Aufstieg in den Herrenbereich unter seine Fittiche genommen hatte, war da. Die Kameraden spielten einen Elfmeter für ihn heraus, einmal ging der ehemalige Zehner mit in den Sturm, aber dann sah er ein, dass die Luft dafür nicht mehr reicht. Der Erlös von Bratwurst-, Getränke- und Kuchenverkauf ging an ihn, insgesamt 1.200 Euro, viel mehr als er gedacht hatte. „Wir hätten das schön auf den Kopf hauen können“, sagt Mark, „aber schon am nächsten Tag war mir klar, dass ich das Geld spenden würde.“ Die eine Hälfte überwies er an die Deutsche Krebshilfe, die andere ans Kinderhospiz Stups. „Ich habe während meiner Krebstherapie viele schwerkranke Kinder gesehen. Als ich auf das Stups gestoßen bin und gesehen habe, was dort getan wird, um sterbenden Kindern einen schönen Lebensabend im Kreise der Familie zu ermöglichen, wollte ich das unbedingt unterstützen.“ Die Krankheit hat ihm vor Augen geführt, wie kostbar das Leben ist, wie schnell es vorbei sein kann, wenn man nicht aufpasst. „Geht zur Vorsorge!“, mahnt er deshalb. Es ist eine Botschaft, die er in seinen letzten verbleibenden Wochen noch weitergeben möchte. Wenn ihm der Krebs auch den Körper aufzehrt, ihm Kraft und Atem raubt, seine Stimme kann er ihm nicht nehmen. Auch seinen Brüdern hat er geraten, sich untersuchen zu lassen. Da Marks Erkrankung auf einen Chromosomenfehler zurückgeht, könnten auch sie betroffen sein − und noch rechtzeitig vorbeugen. „Aber ich glaube, sie sind noch nicht so weit“, sagt er, etwas ernüchtert zwar, aber nicht vorwurfsvoll. „Jeder muss seinen eigenen Weg finden.“ Jede Begegnung mit Mark ist auch eine Begegnung mit dem, was wir alle gern verdrängen und wegschieben. Auch der Vater, so Mark, ein Handwerker, tut sich schwer damit, seine Gefühle gegenüber dem sterbenden Sohn zu zeigen. „Das war bei uns zu Hause einfach nicht so“, sagt Mark ohne jede Bitterkeit. Da ist nur Liebe.

„Wenn ich vor Beginn meiner Krebstherapie gewusst hätte, was das Ergebnis all der Operationen, Schmerzen und Anstrengungen ist, hätte ich damals vielleicht eine andere Entscheidung getroffen“, sagt er. Es ist der einzige Moment an diesem Nachmittag, an dem Mark so etwas wie Resignation und Enttäuschung zeigt. Warum wird der Einsatz, mit dem er sich in die Schlacht geworfen hat, nicht belohnt? Warum war am Ende alles umsonst? Fragen, die an ihm nagen und auf die er noch keine Antworten hat. Er sei immer noch derselbe wie damals, vor der Krankheit, behauptet er einmal. Aber das stimmt nicht. Mark hat viel über das Leben gelernt in den letzten fünf Jahren und dabei eine Reife erlangt, die die eines durchschnittlichen 30-Jährigen weit übersteigt. „Der Krebs ist sein Endgegner“, lächelt Monique und blickt ihren Mann liebevoll von der Seite an. Mark hat den Kampf gegen diesen Endgegner angenommen, alles hineingeworfen, was er hatte, und ihm fünf Jahre abgetrotzt. Fünf Jahre, in denen er sich verliebte, heiratete, ein Kind erzog und von seinem Kampf berichtete. Mark wird den Menschen, die ihn lieben, in Erinnerung bleiben. Er ist kein Verlierer. 

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