Dr. Wolfgang Dreßen steckt den Schlüssel in eines der Vorhängeschlösser, die zwischen den einzelnen Gliedern der blickdichten Bauzaunkette angebracht sind, um die dahinterliegende Ruine des einstigen Affenhauses vor zu neugierigen Blicken zu schützen. Er öffnet einen Spalt, der gerade so groß ist, dass er sich seitlich hindurchzwängen kann und blickt mit in Falten gelegter Stirn auf das kafkaeske Szenario dahinter. Wie Höhlenmalereien des Grauens klebt der Ruß auch nach neun Monaten dicht auf dem Beton der Innenwände jener Gehege, in denen früher Massa, Charly und die anderen Menschenaffen lebten. Sie erzählen die Geschichte
eines Infernos mit unvorstellbarem Leid, aber auch die eines kleinen Wunders, das die Namen Limbo und Bally trägt. Der Schrecken des Brands im Affenhaus des Krefelder Zoos zur Silvesternacht sitzt immer noch tief in Dreßens Gliedern. Schon oft musste er während seiner Amtszeit als Zoodirektor neue Rollenbilder erfüllen. Mit Beginn des Jahres 2020 kamen Krisenmanager und Trostspender hinzu.
Wenn Wolfgang Dreßen mit dynamischen Schritten aus seinem Büro die Treppe hinunter in den Besprechungsraum des Verwaltungsgebäudes auf dem Zoogelände eilt, erweckt er wahrlich nicht den Eindruck, bereits auf die Zielgerade seiner beruflichen Laufbahn eingebogen zu sein. Der 63-Jährige hat ein einnehmendes Wesen, er flutet den Raum mit seiner warmherzigen Aura. Wenn Dreßen über Menschenaffen spricht, redet er nicht von Tieren, sondern von Persönlichkeiten. Die Themen Ökologie und Verhaltensforschung sind schon zu Studienzeiten die Steckenpferde des in Menden geborenen Biologen. An der Uni Bielefeld, deren biologischer Lehrstuhl in den Siebzigerjahren unter Professor Klaus Immelmann zum Silicon Valley der Verhaltensforschung in Deutschland avanciert, studiert er mit Hingabe das Sozialverhalten diverser Säugetiere. „Damals herrschte Aufbruchstimmung“, erinnert er sich mit leuchtenden Augen, „Jane Goodall, Dian Fossey und einige andere brachen mit ihrer Primatenforschung in dieser Zeit in wissenschaftliche Sphären vor, die völlig neu waren. Ich war total fasziniert von dieser Arbeit.“
Es sind die großen Zusammenhänge, die Fragen nach dem Wie und Warum, die Dreßen von faustischen Motiven geleitet schon als Jugendlicher mit dem Chemiebaukasten experimentieren ließen und die auch später die Wegweiser seiner zoologischen Forschungsarbeiten in der Verhaltens- und Tiergartenbiologie bildeten. „Arterhalt und Zuchtprogramme müssen immer auf mehreren Ebenen gedacht werden. Es geht einerseits um die Arche Zoo, anderseits aber auch immer um den Schutz oder die Wiederherstellung natürlicher Lebensräume“, erklärt Dreßen mit Blick auf diverse Studien- und Forschungssemester in den USA, Australien und der Schweiz sowie Volontariaten in den Zoos der Städte Zürich, Basel und Washington, wo er alle Facetten dieser Maxime hautnah miterlebte und mit nach Hause trug. „In den Achtzigern war die Spannweite der Tierhaltung in Zoos enorm groß und natürlich sind mir in dieser Zeit viele Haltungen aufgefallen, die absolut kritikwürdig waren, aber gerade mit dem Krefelder Zoo verband ich gute Erinnerungen.“
Als Dreßen die Uni verlässt, stehen ihm alle Türen in der Forschung offen. Doch es sind eben jene guten Erinnerungen, die ihn dazu bewegen, sich auf die Stelle des wissenschaftlichen Mitarbeiters im Krefelder Zoo zu bewerben. Dort angekommen, sind es nicht mehr nur die Tiere, deren Verhalten er beobachtet. „Das Unternehmen Zoo bedeutete damals eigentlich starre Strukturen. Mir gefielen in Krefeld nicht nur die neuen Wege der Tierhaltung, sondern auch die flachen Hierarchien mit einem Direktor und dessen Stellvertreter. Darunter waren alle Mitarbeiter mehr oder weniger gleichgestellt“, sagt er schmunzelnd. Mit der Verrentung Dr. Walter Enckes rückt sein Stellvertreter Dr. Paul Vogt auf den Posten des Direktors und Dreßen an die Stelle seines Vertreters. An diese Zeit erinnert er sich besonders gerne: „Ich war absolut in meinem zoologischen Element. Ich durfte mich voll um die Entwicklung des Tierbestandes kümmern, baute die Kontakte zu den europäischen Zuchtprogrammen auf und war bei meinen täglichen Runden ständig im engen Kontakt mit den Tierpflegern, Handwerkern und Gärtnern. Keine Politik, wenig Verwaltung.“ Während Zoos um die Jahrhundertwende vor allem zum Amüsement der Besucher entwickelt wurden, denkt Dreßen vornehmlich an das Tierwohl. Besucher sollten sich im Zoo weiterbilden und den Artenschutz verstehen. Leitmotive, an denen er bis heute festhält.
Er sagte mir, dass das Affenhaus
in Flammen steht. Seine Worte, seine
Tonlage und die Umgebungsgeräusche
ließen keine Zweifel daran, dass die
Situation katastrophal war
Dreßen ist niemand, der die Dinge nur verwaltet oder gar rückwärtsgewandt an Bestehendem festhält. Niemand, der in seiner Komfortzone verharrt und Konflikten aus dem Weg geht. Als er 2003 selbst Direktor wird und erkennt, dass der Zoo in den alten Rechtsstrukturen als städtisches Institut nicht mehr funktionieren kann, geht er in die Offensive, sucht und findet mit den Zoofreunden, der Stadtverwaltung und einer Unternehmensberatung Lösungen. „Uns war klar, dass wir zukünftig als GmbH, besser noch als gemeinnützige Gesellschaft operieren müssen. Dafür gab es in dieser Zeit auch schon einige Vorbilder in anderen Zoos. Am Anfang verursachte die Umstellung auf ein Wirtschaftsunternehmen bei vielen Mitarbeitern Unsicherheit, aber es gab keine zukunftsfähige Alternative zu diesem Vorstoß“, resümiert Dreßen, der die darauffolgenden Jahre ohne den Brand im Affenhaus gewiss als die schwierigsten seiner Amtszeit bezeichnen würde. „Das Spannungsfeld zwischen Aufsichtsrat, Zoofreunden und der Zooleitung war, gelinde gesagt, groß. Es wurde immer wieder in das operative Geschäft des Geschäftsführers, sprich in meinen Kompetenzbereich hineingefunkt. Mir war klar, dass ich gehen würde, wenn sich das nicht ändert.“ Erst als 2008 die Führungsriege der Zoofreunde abgewählt wird und ein neuer Vorstand um Friedrich Berlemann entsteht, ändert sich die Situation schlagartig; sie wird nicht nur besser, sondern so gut, dass Dreßen die Zusammenarbeit heute als „feste Allianz“ beschreibt.
Gebaut auf einem soliden Fundament des Vertrauens durchlaufen Dreßen und der Zoo in den folgenden Jahren eine wahre Metamorphose. Dreßen schlüpft bereitwillig in die neue Rolle des Geschäftsführers, entwickelt ein Leitungsteam und erkennt den Bedarf weiterer Mitarbeiter in allen Bereichen. Über 30 neue Stellen werden geschaffen und besetzt. Aus einer behäbigen städtischen Fregatte wird ein schnittiger Katamaran, der die Mechanismen des Marktes versteht und zu nutzen weiß. Alte Anlagen werden abgerissen oder saniert. Stück für Stück entstehen neue, wie das Forscherhaus, die Futtermeisterei, der GorillaGarten, der ZooShop, die Pinguinanlage, das Nashorn-Außengehege, die ErdmännchenLodge und die PelikanLagune. „Gleichzeitig haben wir den Zoo mit unserer Medienarbeit immer mehr geöffnet. Zu sehen, dass der Zoo dabei immer tiefer in die Herzen der Krefelder gelangte, bereitete mir große Freude“, sagt Dreßen lächelnd. „Als ich hier in den Neunzigern anfing, war das noch nicht so.“ Doch auch weit über die Stadtgrenzen hinaus war der Zoo plötzlich in aller Munde, als Spitzmaulnashorn Davu geboren wurde oder das Bild des auf dem Seil tanzenden Silberrückens Kidogo durch die Weltpresse ging. Am Ende der Zehnerjahre war der Tierpark der Seidenstadt auf dem Zenit. Größer hätte die dramatische Fallhöhe nicht sein können in jener Silvesternacht, die vieles für immer verändern sollte.
Ich war kaum zu Hause angekommen, als mein Telefon klingelte und mir unsere Tierärztin mitteilte, dass Tierlaute aus dem Affenhaus drangen, Affenlaute.
Es ist 0.48 Uhr, als Dreßens Handy klingelt. Er nimmt ab, der Zoo-Inspektor ist dran. „Er sagte mir, dass das Affenhaus in Flammen steht. Seine Worte, seine Tonlage und die Umgebungsgeräusche ließen keine Zweifel daran, dass die Situation katastrophal war“, seufzt Dreßen, der sich zu diesem Zeitpunkt zusammen mit alten Freunden auf einer Feier in Bielefeld befand. Sofort setzen sich seine Frau und er ins Auto, sie fährt, er hängt nahezu pausenlos am Telefon, informiert von der Tierärztin, dem Inspektor und Oberbürgermeister. Zwei Stunden brauchen sie normalerweise bis nach Krefeld. Dichte Nebelschwaden zwingen sie zu Tempo 50. Aus zwei werden mehr als drei quälende Stunden. Übers Telefon erfährt er, dass die Feuerwehr mit aller Macht gegen das Inferno kämpft, Polizisten mit Schusswaffen das Areal absichern. „Ich war zu Untätigkeit verdammt“, sagt Dreßen, immer noch sichtlich berührt von der Ausnahmesituation zum Jahreswechsel.
Gegen vier Uhr morgens, vor der Endphase des Brandes, trifft er endlich am Ort der Tragödie ein. Oberbürgermeister Frank Meyer ist zu diesem Zeitpunkt schon seit Stunden vor Ort, tröstet Mitarbeiter und spricht mit Feuerwehr und Polizei. Kein Ton dringt aus dem Affenhaus. „Nachdem ich mir ein Bild der Lage verschaffen konnte, vereinbarten wir mit der Einsatzleitung, dass die Zoomitarbeiter kurz nach Hause gehen und sich zwei Stunden später wieder hier treffen, wenn die Nachlöscharbeiten beendet sind. Ich war kaum zu Hause angekommen, als mein Telefon klingelte und mir unsere Tierärztin mitteilte, dass Tierlaute aus dem Affenhaus drangen, Affenlaute.“ Sofort begibt sich Dreßen wieder in den Zoo und führt Gespräche mit der Einsatzleitung der Feuerwehr, die nun gesicherte Teile des Hauses zum Betreten freigibt. Schnell ist klar, dass die Laute aus dem Schimpansengehege kommen. Dreßen überträgt die Koordination des Rettungseinsatzes auf die Tierärztin, während er selbst mit der Leitung der Polizei und Feuerwehr die Pressekonferenz vorbereitet. Kurz darauf erreicht ihn die Nachricht, dass ein schwerstverletzter Gorilla und ein nicht minder schwer verletztes Orang-Utan-Weibchen gefunden wurden. „Die Tötung der schwerstverletzten Tiere und die Rettung der Schimpansen verliefen parallel. Das war eine unglaublich professionelle Leistung. Vor allem von unserer Tierärztinnen, aber auch von den Tierpflegern und Helfern“, so Dreßen weiter, „Zu unserer Überraschung waren die beiden Schimpansen nur leicht verletzt, und saßen, genau so wie sie es von der morgendlichen Fütterungs-Routine mit ihrem Pfleger kannten, auf ihren Plätzen.“
Der neue Affenpark ist nach dem Brand eines der bedeutsamsten Projekte für Dr. Wolfgang Dreßen. Bis zur Fertigstellung werden fünf bis zehn Jahre vergehen. Erfolgreiches Zuchtprogramm: Die Geburt des Spitzmaulnashorns Davu gehört zu Dreßens schönsten Erinnerungen.
Die Euthanasie des Gorillas Massa und der Orang-Utan-Dame Lea liegt für Dreßen wie ein grauer Schleier über einem ohnehin schon extrem dramatischen Szenario. Zum einen, da Massa angesichts der schwersten Verbrennungen der Haut und Muskulatur nicht mit dem Blasrohr erlöst werden konnte, sondern von einem Polizisten erschossen werden musste, zum anderen, weil Dreßen in der wenig später stattfindenden Pressekonferenz nicht die Wahrheit über das Ende der beiden Menschenaffen sagt. „Ich hätte die Tötung ja nicht konkret beschreiben, jedoch zumindest bejahen können“, erzählt Dreßen mit ehrlicher Reue, „aber das mit Polizei und Feuerwehr abgestimmte Statement zum emotionalen Schutz der beteiligten Mitarbeiter stand fest, weil wir es zu diesem Zeitpunkt für das Beste hielten. Im Nachhinein war dies Futter für wilde Spekulationen in den sozialen Medien und ein Fehler, den ich so nicht wiederholen würde.“ Es ist nicht viel, was man dem Zoodirektor vorwerfen könnte, der in den darauffolgenden Wochen ein Krisenmanagement demonstriert, das von Weitsicht, Empathie und Offenheit geprägt ist, der alles tut, um seine Mitarbeiter vor dem medialen Andrang zu schützen, ihnen therapeutische Hilfen und das richtige Umfeld anbietet, um Trauer zuzulassen. „Ich bin sehr stolz auf unser Zoo-Team und auf so viele Menschen, die sich in der Nacht und in den folgenden Wochen so für unseren Zoo engagiert haben“, sagt er dankbar.
Dreßens Name wird immer untrennbar mit dem Brand im Affenhaus verknüpft sein. Doch irgendwann einmal, wenn die Ruine abgetragen und die Höhlenmalerei des Grauens verschwunden ist, wird man sich an ihn als einen visionären Zoodirektor und Initiator des neuen Affenparks erinnern, in dem keine Tiere, sondern Persönlichkeiten leben.