Klebstoff ist so eine Art unbesungener Held der Haushaltsutensilien. Jeder hat ihn schon einmal benutzt und sich danach über klebrige Finger geärgert – oder sich darüber gefreut, dass er einen kaputten Gegenstand flicken konnte. Trotz dieser Eigenschaft ist Klebstoff aber alles andere als sexy. Während so manches banale Produkt durch kreatives Marketing zum Objekt der Begierde hochgejazzt wird, bleibt er bescheiden und unauffällig im Hintergrund, bis er verlässlich seine Arbeit verrichten darf. Genauso, als „Klebstoff“, beschreibt Anouk van der Vliet mit dem ihr eigenen Understatement ihre Funktion als Chefredakteurin der Welle Niederrhein, dem Lokalsender am linken Niederrhein. Sie muss nicht nur ein Team mitunter eigensinniger kreativer Köpfe zusammenhalten, sondern auch ein Programm zusammenstellen, das die verschiedenen niederrheinischen Kommunen und ihre nicht immer in regionaler Einheit verbündeten Einwohner verbindet.
Anouk begrüßt uns gut gelaunt in den Räumlichkeiten des Senders über der Krefelder Rheinstraße. Auch die Ende Februar noch unumgängliche Mund-Nasen-Maske kann die quirlige, lebhafte Art der Journalistin nicht verbergen, die uns eine halbe Stunde vor Sendungsbeginn in den Besprechungsraum bittet. Mit zehn Jahren Radioerfahrung geht die erst 28-Jährige bereits als „alter Hase“ im Radiogeschäft durch, und so verwundert es auch nicht, dass sie ganz entspannt ist. „Ich muss für 16:30 Uhr noch einen Text vorbereiten, aber das ist kein Problem“, entgegnet sie unserem Versprechen, sie nicht allzu lang aufzuhalten. Seit Januar 2022 ist Anouk offiziell Chefredakteurin des Senders, zuvor bekleidete sie diese Position nach dem Ausscheiden ihres Chefs Sven Ludwig ein Jahr lang kommissarisch. „Das Angebot war damals schon eine Überraschung“, gesteht sie – doch auf den Kopf gestellt hat die unerwartete Beförderung ihr Leben nicht. Anouk verfügt über ein gesundes Selbstbewusstsein, aber sie ist kein Mensch, der zum Abheben neigt. Zu viel hat sie im Mediengeschäft schon erlebt, um sich allzu schnell aus der Ruhe bringen zu lassen. Das Leben ist ständig in Bewegung, der Job erfordert große Flexibilität, sowohl im Kopf als auch im Terminkalender, da ist es gut, wenn man selbst stabil bleibt.
Ob aber „Stabilität“ das war, was sie sich erhoffte, als sie vor zehn Jahren den Berufswunsch so vieler junger Leute entwickelte? „Es sollte halt ,irgendwas mit Medien‘ sein“, erinnert sie sich, „es war tatsächlich so klischeehaft.“ Gleich das erste Praktikum bei Welle Niederrhein entpuppte sich als Volltreffer: „Man kann sagen, dass ich auf Radio hängengeblieben bin. Die Möglichkeit, direkt mit den Menschen in Kontakt treten und in Echtzeit berichten zu können, hat mich sofort begeistert“, beschreibt sie. Nach vier Jahren Welle Niederrhein suchte die gebürtige Tönisvorsterin dann zunächst eine neue Herausforderung, die sie bei der Funke Mediengruppe in Essen fand. In der Abteilung Sales Marketing übernahm sie eher organisatorische Aufgaben und erhielt Einblicke in einen anderen Bereich des Journalismus. „Das war interessant, zumal ich in einer neu geschaffffenen Abteilung großes Mitbestimmungsrecht hatte, aber irgendwann zog es mich zurück. Außerdem war das Pendeln nach Essen echt ätzend!“, schiebt sie mit einem Zwinkern nach.
Hört man ihr genau zu, scheint aber klar, dass es weniger solche Unannehmlichkeiten, sondern vor allem die Faszination Radio war, die sie zur Rückkehr an ihre alte Wirkungsstelle bewog: „Hier ist kein Tag wie der andere, man wird immer wieder überrascht und muss den Plan, den man am Vortag gemacht hat, nicht selten schon morgens wieder komplett über Bord werfen, weil irgendetwas Unerwartetes passiert ist.“ Den oft beschworenen rasenden Reporter, der von einem Termin zum anderen hetzt, vom Ort eines Brands zum Oberbürgermeister und danach zum Karnevalsverein, gibt es bei einem Sender wie Welle Niederrhein tatsächlich noch. Und manchmal übernimmt sogar die Chefin höchstpersönliche diese Rolle: „Bei einem Lokalsender kann man sich die Vorstellung, als Chefredakteurin müsse man keine Außentermine mehr wahrnehmen, komplett abschminken“, lacht sie hinter der Maske. Und Anouk hat kein Problem damit, dahin zu gehen, wo es wehtut. Wenn es um Einsatzbereitschaft und Engagement geht, schreitet sie als gutes Vorbild voran. „Ich habe gelernt, immer Kleidung für verschiedene Anlässe in der Tasche zu haben, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Das Jackett für den Besuch im Rathaus, Jogginghose und Sneakers für den Einsatz in freier Wildbahn“, lacht sie.
In den vergangenen beiden Jahren erschwerte allerdings die Pandemie den direkten, persönlichen Kontakt und das Redaktionsgeschäft verlagerte sich wie in so vielen anderen Branchen auch an Schreibtisch und Telefon. Der Nähe zur Hörerschaft hat dies allerdings keinen Abbruch getan: „So wie wir sehr schnell auf aktuelle Geschehnisse reagieren, reagieren auch die Menschen auf uns“, weiß Anouk aus eigener Erfahrung. „Mit den Social-Media-Kanälen ist das heute sogar noch extremer als früher. Es ist Fluch und Segen zugleich: Einerseits ist diese Nähe natürlich großartig, andererseits bedeutet sie auch mehr Arbeit, denn viele Follower erwarten, dass wir ihnen antworten.“ Social Media und Internet haben die Art und Weise, wie das Medium „Radio“ rezipiert wird, vielleicht nicht grundlegend geändert, aber doch um wichtige Facetten erweitert. „Noch immer ist Radio ein Nebenbei-Medium, das man am Frühstückstisch, im Auto auf dem Weg zur Arbeit oder im Büro hört“, erläutert Anouk, während sie sich die markante weiße Haarsträhne aus dem Gesicht wischt. „Aber heute bietet das Netz die Möglichkeit, bestimmte Sendungen später nachzuholen, verschriftlichte Beiträge zu lesen oder mit uns auf Facebook darüber zu diskutieren. Statt auf dem Radiowecker empfangen unsere Hörer uns mit dem Smartphone oder sie sagen: ,Alexa, spiel‘ Welle Niederrhein!’“ Seitdem das Internet einen nicht unerheblichen Teil der Medienpräsenz ausmacht, ist es aber auch mit der einstigen Anonymität der Radiostimme vorbei. „Ich werde heute wirklich oft erkannt und angesprochen, aber nicht unbedingt wegen meiner Stimme, sondern weil die Menschen mein Gesicht aus dem Netz kennen“, berichtet Anouk. „Das gab es früher nicht.“
Wiedererkennbarkeit strebt die Chefredakteurin aber auch in anderer Hinsicht an. Sie ist neben Haltung und Persönlichkeit ein Wert, den sie nicht nur von sich selbst, sondern von allen ihren 16 Mitarbeitern einfordert. Diese verschiedenen Charaktere unter einen Hut zu bekommen, bei Laune zu halten, immer wieder ihren Stärken gemäß einzusetzen und die Qualität der eingereichten Beiträge zu gewährleisten, ist dann auch ihre Hauptaufgabe. Und natürlich Tag für Tag ein Programm auf die Beine zu stellen, das die wichtigsten Nachrichten abdeckt und dazu Krefelder, Tönisvorster, Kempener und Viersener gleichermaßen zufriedenstellt. Eine echte Herausforderung. „Der Niederrheiner ist von Natur aus ein bisschen burschikos und eigensinnig. Dazu gibt es einen großen Lokalpatriotismus. Wenn sich schon Hülser und Uerdinger nicht so recht mit Krefeld anfreunden können, wie könnte man das von einem Viersener erwarten?“, fragt sie lächelnd. Abschrecken lässt sie sich davon jedoch nicht. Es gilt, die richtige Mischung zu fifinden und jedem Hörer etwas zu bieten – ohne dabei in der Beliebigkeit zu enden. „Lokal ist, was lokal interessiert“, fasst sie ihre Programmphilosophie prägnant zusammen. Hinter dem so einfach klingenden Satz steht ein durchaus ambitioniertes Vorhaben: „Es geht darum Einheit zwischen diesen unterschiedlichen Gemeinden und Menschen zu stiften.“
In der Sprecherkabine des Senders hat sich derweil Moderatorin Monique van Schijndel verschanzt. Zwischen ihren Einsätzen singt sie lauthals die Hits mit, die vom Band gespielt werden. Es herrscht eine entspannte, fast gemütliche Atmosphäre an diesem Tag. Ausnahmsweise gab es mal keine besonderen Vorkommnisse. Nicht immer das Schlechteste. Mit Schrecken erinnert sich Anouk an die Silvesternacht, in der das Affenhaus des Zoos in Flammen stand. Eine Breaking News, auf die sie, wie so viele Krefelder, gern verzichtet hätte. Aber die Vielfalt des Berufs, die Einblicke, die sie erhält, wenn sie von Gerichtsverhandlungen oder einer Bombenentschärfung berichtet, möchte sie keinesfalls missen. Sie macht einen zufriedenen, ausgeglichenen Eindruck. Vielleicht auch deshalb, weil sie es auf ihren Reisen ganz bewusst ganz anders macht als im Job: „Da bin ich überhaupt nicht flexibel und plane stattdessen alles akribisch durch“, gesteht Anouk. „Ich bin zum Beispiel ein großer Freund ausführlicher To-do-Listen!“ Auf dieser Liste fehlt eigentlich nur noch ein Häkchen zum Wunschlos-glücklich-Sein: „Ich würde wahnsinnig gern mal auf einer Eismaschine fahren“, lacht sie. Dem ein oder anderen mag an dieser Stelle das Sprichwort über das graue Huftier einfallen, das es vor lauter Übermut aufs Eis zieht, aber bei Anouk ist auch dieser Wunsch ein weiteres Indiz für die Erdung, die sie als Mensch und als Chefredakteurin auszeichnet.
Als ich ein paar Stunden später das Radio einschalte, läuft Anouks Beitrag, eine Ausbildungsgeschichte. Sie wird als Dialog mit Monique gesendet, die immer wieder mit Fragen nachhakt. Beide sind voll in ihrem Element, das Gespräch wirkt keineswegs gestellt, sondern läuft völlig spontan und natürlich ab. So ist das eben, wenn Profifis miteinander arbeiten: Man sieht keine Klebestellen.