Seit über einem Jahr befindet sich Deutschland bereits im Ausnahmezustand. Als im März 2020 im Rahmen des ersten Lockdowns zum ersten Mal das gesellschaftliche Leben stillstand, dachten wir noch, Homeschooling, Homeoffice, Notbetreuung und Kontaktbeschränkungen seien vorübergehende Notlösungen. Heute sind wir nur noch müde und erschöpft von sich ständig verändernden Regeln und Routinen, von Ängsten und Sorgen, die uns rund um Familie und Beruf beschäftigen. Doch wenn das schon für uns Erwachsene gilt, die wir über Lebenserfahrung und eine gewisse Krisensicherheit verfügen, wie geht es dann erst unseren Kindern? Kinder- und Jugendexperten schlagen seit einiger Zeit immer lauter Alarm. Spätestens, seit das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) im Januar ein knappes Jahr nach Beginn der Pandemie die Ergebnisse der COPSY-Studie präsentierte, haben wir die besorgniserregenden Zahlen schwarz auf weiß: Etwa jedes dritte Kind im Deutschland zeigt in Folge der Pandemie inzwischen psychische Auffälligkeiten.
Dem entgegenzuwirken, ist tägliche Aufgabe von Pädagogen im Schuldienst, in Kindertagesstätten, in der Jugendhilfe oder in freizeitpädagogischen Einrichtungen. Mit vollem Einsatz versuchen sie zum einen, Kindern und Jugendlichen im Hier und Jetzt Akuthilfe zu bieten, Strukturen und Halt zu geben, zum anderen aber auch, die Spätfolgen einzudämmen, die uns nach der Pandemie drohen könnten. Das CREVELT Magazin sprach mit Akuthelferin Steffi Kaczikowski, Leitung der Lebenshilfe-Kindertagesstätte am Hauserhof, und mit Dietmar Siegert vom Kinderschutzbund. Er ist sich sicher: Das, was gerade geschieht, wird unsere Gesellschaft nachhaltig verändern.
Kindertagesstätte der Lebenshilfe: Normalität und Stärke sind strukturgebend
Gut gelaunt kommen die Geschwister Henry und Jannes an der Kindertagesstätte am Hauserhof an. Die Mama haben sie bereits vor der Tür verabschiedet, sie darf ja schließlich schon seit letztem Jahr nicht mehr mit reinkommen, jetzt stehen die beiden bereits lachend beim Fiebermessen. Für die beiden Jungs, so ist sich Kita-Leitung Kaczikowski sicher, ist die Pandemie inzwischen Alltag geworden: „Ich glaube, viele unserer Kinder erinnern sich gar nicht mehr daran, wie es vor Corona war“, erklärt sie. „Natürlich werden die Einschränkungen von ihnen wahrgenommen, aber das veränderte Leben ist inzwischen längst Normalität.“ So gehen Jannes und Henry bereits ganz selbstständig und ohne Einwände zum Waschbecken, um sich mehrmals am Tag ausgiebig die Hände zu waschen.
Im Lebenshilfe-Kindergarten sind inzwischen fast alle Kinder wieder in die Betreuung zurückgekehrt. Waren zu Hochzeiten des Lockdowns lediglich fünf Kinder in der Notbetreuung, kümmerten sich die Pädagogen während der Pandemie im Schnitt um rund 35 Kinder – etwa die Hälfte der eigentlich 73 Kinder mit und ohne Behinderung zwischen zwei und sechs Jahren, die in den vier Gruppen untergebracht sind. „Der Gruppenalltag hat sich natürlich stark verändert“, bestätigt Müge Ak, stellvertretende Leitung und Heilerziehungspflegerin der Delfin-Gruppe. Vor Corona waren die Gruppentüren nach der morgendlichen Begrüßungsrunde geöffnet, heute sind sie zur Minderung des Infektionsrisikos geschlossen. Auch der Außenbereich der Kita wird durch rot-weißes Flatterband geteilt. Der vierjährige Justus betont zwar, wie doof er das finde, steht aber gut gelaunt am Band und unterhält sich ausgelassen mit seinem Kumpel aus der Nachbarsgruppe – natürlich mit Abstand. „Ich glaube, es kommt wirklich darauf an, wie wir und die Eltern die aktuelle Situation mit den Kindern verarbeiten“, beschreibt die Kita-Leiterin. „Als die Selbsttests eingeführt wurden, hat die Kita den Eltern zum Beispiel sofort das Angebot gemacht, gemeinsam mit ihnen die Tests in der Einrichtung durchzuführen und nicht, wie ursprünglich angedacht, die Tests mit nach Hause zu geben.“ Im Stuhlkreis wurde gruppenintern mit den Kindern genauestens besprochen, wie ein Coronatest funktioniert. Die Kids konnten Fragen stellen, den Test selbst in die Hand nehmen oder auch von ihren Erfahrungen damit berichten. Es gab, so erklärt Kaczikowski weiter, gar keine Gelegenheit, überhaupt ein Angstgefühl aufkommen zu lassen. Jeden Montag und jeden Donnerstag bietet die Kita den Eltern nun an, ihre Sprösslinge vor Ort testen zu lassen. „Am Ende haben die Kinder ihren Eltern erklärt, wie das funktioniert“, beschreibt auch Ak lachend. „Genau das ist wichtig. Natürlich müssen wir die Kinder in ihren Ängsten und Sorgen auffangen, aber wir müssen vermeiden, aus der Situation ein großes Ding zu machen – wir sind dafür da, ihnen Normalität zu vermitteln.“
Was im Kontakt mit den Kindern einfach wirkt, ist hinter den Kulissen ein wahrer Kraftakt. Heilpädagogin Kaczikowski stemmt die Leitungsaufgaben, koordiniert, organisiert und spricht gut zu. Gleichzeitig ist ihr Anspruch, das Wohlbefinden der Kinder, Eltern und Mitarbeitenden im Blick zu halten. „Der Teamzusammenhalt ist jetzt so wichtig wie nie zuvor“, beschreibt sie. „Ja, auch ich habe mal hinter verschlossener Tür geweint, aber im Team vermitteln wir Stärke und positive Stimmung. Das wirkt sich auch auf die Kinder aus.“ Dafür gehen die Pädagogen an ihre Grenzen: Die eigenen, privaten Kontakte haben sie komplett heruntergefahren, um die Kinder nicht zu gefährden oder das Team durch eine mögliche Quarantäne zu belasten. Auch die Einhaltung der Hygieneanforderungen raubt immer wieder Ressourcen. „Gott sei Dank haben wir eine Elternschaft, die unser engmaschiges Hygienekonzept unterstützt“, beschreibt Ak. „Aus anderen Einrichtungen kennen wir da andere Storys.“ Und deswegen sind sich die Pädagogen auch sicher, dass in ihrem Lebenshilfe-Kindergarten keines der zwei- bis sechsjährigen Kinder durch die Pandemie an Entwicklungsverzögerungen oder außergewöhnlichen psychischen Belastungen leiden wird. „Dafür sind wir sehr dankbar“, schließt Einrichtungsleiterin Kaczikowski ab. „Denn wir sind uns auch darüber im Klaren, dass das in anderen, nicht so behüteten Gegenden sicherlich anders ist.“
Kinderschutzbund: Corona wirft uns um Jahre zurück
Solche Geschichten kann Dietmar Siegert als Leiter des Krefelder Kinderschutzbundes zuhauf erzählen. Zwar glaubt der Sozialarbeiter auch, dass Kindergartenkinder aufgrund der hohen Stabilität in Kitas während der Coronapandemie im Vergleich nur wenig abbekommen haben, aber aus den Einrichtungen des Kinderschutzbundes kennt er andere Fälle. „Ich habe selbst beobachtet, wie ein Kind nach Verlassen der Gruppe auf einen Zaun zurannte, um seine Freundin dahinter zu begrüßen und dann kurz davor wie angewurzelt stehen blieb, weil es nicht wusste, ob es ihr überhaupt nahekommen dürfe“, erzählt er. „Das war für mich eine dramatische Szene, denn die Schutzmaßnahmen greifen in das natürliche Verhalten unserer Kinder ein.“
Der Kinderschutzbund in Krefeld betreut als Träger nicht nur Kindertagesstätten, sondern ist unter anderem auch im offenen Ganztag und in der Schulsozialarbeit aktiv. Siegert ist sich sicher, dass die Kluft zwischen Arm und Reich durch Corona noch breiter werden wird. Er warnt aber auch davor, die Folgen der Pandemie lediglich als Problem prekärer Familienverhältnisse zu sehen. „Wir nehmen Kindern und Jugendlichen gerade alle Bereiche, die sie benötigen, um sich körperlich und auch seelisch gesund und altersgemäß entwickeln zu können“, beschreibt er. „Begegnung, Bewegung, Erlebnisse – all das ist aktuell eingeschränkt.“ Schon jetzt seien die Kinder- und Jugendpsychiatrien maßlos überlastet und nähmen nur noch Heranwachsende auf, die akut suizidgefährdet seien. Bereits heute müsse dadurch eine Form der Triage erfolgen, weil für Kinder mit einer „einfachen Depression“ kein Platz mehr sei. „Aber eine Depression kann sich dramatisch entwickeln, wenn sie nicht behandelt wird“, beschreibt der Experte. „Was da in Zukunft auf uns zukommen wird, können wir jetzt noch gar nicht überschauen.“
Die Pädagogen, die für den Kinderschutzbund an der Front arbeiten, beobachten die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit Sorge. Viele Schützlinge zeigen körperliche Veränderungen: Dunkle Ringe unter den Augen zeugen von einer erhöhten Belastungssituation, zugelegtes Gewicht von fehlender Bewegung und schlechter Ernährung. Auch eine aufkommende Mediensucht werde immer häufiger zum Problem. „Ich kann verstehen, dass Eltern in dieser belastenden Situation oft müde und gestresst sind“, schildert Siegert. „Sie möchten nach Arbeit und Homeschooling nicht mehr lang am Herd stehen und gesund kochen. Viele haben in den vergangenen Monaten aufgegeben, für eine sinnvolle Beschäftigung ihrer Kinder zu sorgen. Aber das ist gefährlich. Gerade jetzt müssen wir unsere Kräfte bündeln.“
Und dann gebe es auch noch die Kinder, die durch Corona völlig von der Bildfläche verschwunden seien. Wer aufgrund der zu Hause herrschenden Verhältnisse schon vor der Pandemie Probleme hatte, verliert im Homeschooling völlig den Anschluss. Neben der technischen Ausstattung fehlen auch die nötigen Strukturen: Die Kinder bleiben auf der Strecke. Lorenz Bahr, Leiter des Landesjugendamtes, äußerte zuletzt in den Medien die Sorge, dass sich die Zahl der Schulabbrecher in Zukunft verdoppeln werde, und auch Dietmar Siegert glaubt daran, dass das, was durch die Pandemie in Gang gekommen ist, noch viele Jahre nachwirken werde. „Diese jungen Menschen am Ende wieder einzufangen und vielleicht über den zweiten Bildungsweg in eine Karriere und damit in ein gesundes, selbstständiges Leben zu führen, wird eine große Herausforderung“, schildert er. Es bedürfe am Ende nicht nur engagierter Pädagogen, die in Zeiten des Fachkräftemangels eh schon rar sind, sondern auch staatlicher Gelder.
Geld, das ist ein sensibles Thema für den Leiter des Kinderschutzbundes. Wenn Siegert über die Maßnahmen der Regierung spricht, die Ausbreitung der Pandemie durch Kontaktbeschränkungen einzudämmen, dann kann er das irgendwie noch verstehen. Wenn er aber daran denkt, dass die Lufthansa in Folge der Pandemie vom deutschen Staat neun Milliarden Euro bekommen hat und das Corona-Aufholpaket für die Stärkung von Kindern und Jugendlichen gerade einmal zwei Milliarden umfasst, also nicht mal ein Viertel der Lufthansa-Gelder, wird er sauer. „Ich habe noch die Worte der Bundesregierung im Ohr, dass wir die Schulen als erstes wieder öffnen werden, wenn die Infektionszahlen heruntergehen. Stattdessen sitzen die Leute jetzt bereits in Biergärten und trinken ausgelassen ein Gläschen“, sagt der Sozialarbeiter. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass alle pädagogischen Errungenschaften der letzten Jahre mit der Pandemie über Bord geworfen wurden. Ein Jahr Corona für uns als Erwachsene ist mit zehn Jahren Entwicklungszeit von Kindern gleichzusetzen.“ Jahrelang schon setzt sich der Kinderschutzbund unter Leitung von Siegert in Krefeld dafür ein, Kinder stark zu machen. Das Ausmaß an Sorge über den coronabedingten Rückschritt, ist dem engagierten Siegert anzumerken. Wenn er spricht, legt er die Stirn in Falten und seine Stimme wird aufgeregt. „Und dabei“, so schließt Siegert ab, „haben wir an dieser Stelle noch gar nicht über das riesengroße Feld der sexualisierten Gewalt gesprochen, das durch die Pandemie nun noch weiter ins Dunkle gerät.“ Allein über diesen traurigen, dramatischen Aspekt könnte Siegert ein ganzes Magazin füllen.