
Die Welt wird digitaler: Wir hören Musik auf dem Smartphone und lesen elektronische Bücher. Wozu braucht es also noch Buchbinder? Schon als Andrea Rahm vor vierzig Jahren einen Ausbildungsplatz sucht, darf sie sich anhören, dass dieser Beruf keine Zukunft habe. Unbeirrt verfolgt sie dennoch ihren Weg ins jahrhundertealte Handwerk – weil es bis heute Menschen gibt, die schöne Dinge aus Papier oder Pappe lieben. Wenn sie nicht gerade auf Reisen ist, findet man die entspannte Weltenbummlerin in ihrer eigenen Werkstatt, wo sie alte Lieblingsbücher restauriert und Einzelstücke wie Kalender und Mappen fertigt. Auf dem Weihnachtsmarkt sprach sie über greifbare Schätze und enthüllte fast ein Geheimnis.
„Bücher wird es immer geben“, sagt Andrea Rahm mit fester Stimme und einem fröhlichen Gesicht, als sie uns in das moderne Holzhaus an der Dionysiuskirche führt. „Man kann sie aufschlagen, in die Geschichten fremder Menschen eintauchen oder eigene Erlebnisse aufzeichnen.“ Ein Leben ohne Seiten? Ist frei nach Loriot zwar möglich, aber sinnlos – das zeigt auch die Anzahl der Besucher, die während des Interviews an den Weihnachtsstand kommen. Nur sechs Tage lang wird die Buchbinderin in Krefeld sein, dann geht es weiter zum Schloss Moyland auf den nächsten Markt: „Ich verkaufe nur auf Kunsthandwerker- und Weihnachtsmärkten und bin in ganz Deutschland unterwegs, um meine Arbeiten vorzustellen.“ Dass sie über großes handwerkliches Geschick verfügt, verrät bereits ihr selbstgestricktes Outfit, das genauso farbenfroh ist wie die überbordende Auslage aus individuellen Kladden, Fotoalben, Notizbüchern und Boxen für Visitenkarten. Besonders gefragt seien aktuell die Zauberbücher, die eigentlich als Geschenkverpackung dienen, erklärt die 62-Jährige ziemlich verschmitzt: „Man legt Geld oder ein Foto hinein, klappt es zu – und schwupps wandert der Inhalt von einer Seite zur nächsten. Magisch, oder?“ Auch für Eintrittskarten oder Gutscheine eignet sich das sorgsam gearbeitete Kleinod, allerdings sollte man auf die Größe der Einlage achten. So schickt die verständnisvolle Händlerin lieber eine Interessentin ohne Zauberbuch nach Hause, als etwas zu verkaufen, das „nicht richtig passt und somit kein Lächeln ins Gesicht zaubert“.

Ihr Fokus auf Genauigkeit, Qualität und Kundenzufriedenheit kommt dabei nicht von ungefähr: 1962 in der Kleinstadt Willich geboren, wächst Andrea in einer bodenständigen wie toleranten Handwerkerfamilie auf. Ihre Mutter ist Schneiderin, der Vater Bäckermeister mit eigenem Betrieb, und zwei Geschwister entscheiden sich ebenfalls für diese Branche. Und Andrea? Sucht das Abenteuer: Nach dem Abitur am St.-Bernhard-Gymnasium zieht es die junge Frau der Liebe wegen nach Italien, wo sie sich vier Jahre lang mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält. Per Zufall landet sie danach in Kalifornien und lernt die Buchbinderin Anne kennen, die ihr in einem Kurs die Faszination des Umgangs mit Leim, Pinsel und Papier vermittelt. „Ich wusste sofort: Diesen Beruf will ich unbedingt machen!“, strahlt die ausgewiesene Leseratte. „Es ist so spannend, mit Papier zu arbeiten, Farben und Muster zu kombinieren – eben schöne Dinge daraus herzustellen.“
Zurück in Deutschland wendet sie sich sofort an die Arbeitsagentur, die zwar wegen aus ihrer Sicht mangelnder Perspektiven nicht besonders angetan ist, ihr aber eine Lehrstelle in Düsseldorf vermittelt. In drei Jahren lernt Andrea Ende der Achtzigerjahre alle Arbeitsschritte kennen, die zur uralten Kunst des Buchbindens notwendig sind: Nach dem Druck werden die Seiten, auch Lagen genannt, geordnet und zusammengeheftet. Genauso gehören das Versehen des Buchblocks mit einem Einband, beispielsweise aus Gewebe, Papier oder Leder, und der anschließenden Verzierung dazu. „Es muss aufmerksam, geduldig und mit Präzision gearbeitet werden, damit man nicht nur lose Blätter, sondern ein ganzes Buch in der Hand halten kann.“
Manche Techniken reichten sogar bis in das 6. Jahrhundert zurück, erzählt Andrea begeistert und zeigt auf ein Buch mit einem alten Einband und neuen, von Hand gerissenen Seiten aus Büttenpapier. „Das ist ein Produkt aus dem Schwesternprojekt, das mir sehr am Herzen liegt“, schwärmt sie von der Kooperation mit ihrer Schwester Anna, die in Ravensburg eine mehrfach ausgezeichnete Buchhandlung betreibt und vor Kurzem noch ein modernes Antiquariat übernommen hat. „Bei dieser Fadenbindung ist der Rücken offen, sodass man das Buch gut aufschlagen und liegen lassen kann. Alte Bücher haben oft wunderschöne Einbände, nur das Innenleben muss erneuert werden. Die Leute fahren auf Recycling richtig ab!“ Die Lachfalten rund um ihre Augen werden noch tiefer.

Andrea Rahm erzählt liebevoll ein paar Anekdoten von Menschen, deren Lieblingsbücher sie mit dieser historischen Methode erhalten kann, und taucht wieder ein in ihre etwas rastlose Biografie. Denn nach Abschluss der Ausbildung geht es erneut auf Reisen, insgesamt 15 Jahre lang: USA, Kanada, Uruguay oder Neuseeland stehen oft auf dem Plan. „Work & Travel würde man heute sagen“, schmunzelt die Weltenbummlerin, die sich auch für Jobs als Erntehelferin nicht zu schade ist. Ein neuseeländischer Buchbinder bringt ihr schließlich die Kunst des Restaurierens näher – und animiert sie am Ende, sich selbstständig zu machen. „Er war eine tolle Persönlichkeit und hat mir das zugetraut. Also habe ich 2008 in Deutschland ganz klein angefangen, in der ehemaligen Backstube meiner Eltern in Fischeln. Bis heute besitze ich nur eine Maschine, die Strom braucht, nämlich die Prägemaschine – alles Weitere ist reine Handarbeit!“
Dass sie die Zeit in ihrer Werkstatt genießt, muss sie nicht extra erwähnen, es lässt sich auch in ihren Augen ablesen. „Ich lege Wert auf gute Qualität an Materialien und Ausführung und nehme mir viel Zeit für individuelle Projekte und Herausforderungen“, schreibt Andrea Rahm auf der Webseite paper2books.de. Der hohe Anspruch hat Folgen: Die Buchbinderin wird nicht nur regelmäßig zu renommierten Kunsthandwerkermärkten eingeladen, ein Wanderbuch für eine Glasmalerin bringt ihr 2023 auch die Nominierung für den Staatspreis NRW ein. In Zukunft will die geschickte Handwerkerin dort auch wieder Wochenend- oder Nachmittagskurse für Privatpersonen anbieten und kleine Einblicke in die Buchbinderei oder die Tücken der Zauberbücher gewähren. Denn bis heute habe das Buchbinderhandwerk nicht an Lebendigkeit verloren und trage insbesondere zum Erhalt alter Bücher und von Archivgut bei, würdigt auch die UNESCO die traditionellen Techniken als Immaterielles Kulturerbe.
„Papier ist geduldiger als Menschen“ – mit diesem Satz rühmte Anne Frank einst die freundliche Langmut ihres Tagebuches. Gerade in hektischen Zeiten sollten wir uns freuen, dass der Beruf der Buchbinder doch noch nicht ausgestorben ist. Denn wer regelmäßig Bücher liest oder zu Stift und Papier greift, um seine Gedanken zu sortieren, ist einfach entspannter.

Fotos: Felix Burandt