Heroes in Krefeld

Alexander Henes: Ohne Rückgrat keine Haltung

Alexander Henes leitet seit 2016 die Geschicke des Hospiz Krefeld. Die Rolle interpretiert er dabei auf ganz eigene Art und Weise.

Wenn wir an klassische Helden denken, sehen wir meist strahlende Gestalten, Musterexemplare der Gattung Mensch, zu denen wir nur ehrfurchtsvoll emporschauen können: der germanische Siegfried ein stattlicher Blondschopf, der es selbst mit einem Drachen aufnahm; Herakles ein direkter Spross von Göttervater Zeus und mit übermenschlichen Kräften ausgestattet; Achilles ein Sterblicher, aber aufgrund seiner Schönheit und seines Großmuts wie ein Gott verehrt. Unsere heutigen Helden verfügen über andere Qualitäten: Sie zeichnen sich nicht so sehr durch äußere, physische Merkmale aus, sondern durch unverrückbare, auch gegen Widerstand vertretene Werte. Durch Haltung, wie Alexander Henes sagen würde. Seit 2016 fungiert er als Gesamtleiter des Hospiz Krefeld mit dem stationären Hospiz am Blumenplatz und dem ambulanten Hospiz und Palliativberatungsdienst auf der Carl-Wilhelm-Straße. Eine Tätigkeit, die er auf ganz eigene Art und Weise interpretiert. Und damit auch manchmal aneckt.

Beim Begriff „Hospiz“ zucken die meisten Menschen unweigerlich zusammen. Niemand setzt sich gern mit dem Tod auseinander, weder mit dem eigenen noch mit dem Nahestehender. Wir vermeiden es, an ihn zu denken oder über ihn zu sprechen. Im Hospiz aber ist er allgegenwärtig. Es ist ein Ort, an dem das Sterben zu Hause ist. Welche Eigenschaften muss jemand mitbringen, der die Geschicke einer solchen Einrichtung lenkt, Menschen bei ihrem letzten Schritt begleitet und sich freiwillig ihren Schicksalen aussetzt? Ist es jemand, der sehr gläubig ist und Kraft aus dem Wissen schöpft, dass es nach dem Tod weitergeht? Ein passionierter Altruist, dessen Wunsch, anderen zu helfen, schon fast an Selbstaufgabe grenzt? Oder doch ein kühler Bürokrat, der das, was um ihn herum passiert, so stark abstrahiert, dass es ihn nicht mehr berührt?

Alexander Henes ist groß und stämmig, ein Mann wie ein Bär – und wahrscheinlich mit ähnlich großem Appetit. Das Haar, das am Schopf fehlt, trägt er um das Kinn, unter den langen Hemdsärmeln lugen Tattoos hervor. Er unterhält sich gern, gerät dabei ins leidenschaftliche Philosophieren, und trinkt bei seinen geliebten Karnevalsveranstaltungen auch mal ein Bierchen mehr. Wenn man ihn sieht, kann man ihn sich gut am Steuer eines Sattelschleppers vorstellen, als Vorarbeiter auf einer Baustelle, der den Lehrlingen mit kräftiger Stimme Dampf macht, vielleicht auch hinter einer Fleischertheke, wo er mit sicherer Hand dicke Koteletts herunterschneidet. „Die Leute denken ganz oft, ich sei hier der Hausmeister“, gesteht er freimütig, ohne jede gekränkte Eitelkeit. Er weiß ganz genau, wie er auf oberflächlichere Zeitgenossen wirkt, aber auch, was er kann und was er erreicht hat. Es bringt ihn zum Schmunzeln, wenn er Menschen mit ihrer Erwartungshaltung auf dem falschen Fuß erwischt und es stört ihn kein bisschen, dass er manchen mit seiner geradlinigen, manchmal auch provokanten Art durchaus ein Dorn im Auge ist – im Gegenteil. „Das Hospiz finanziert sich durch Spenden, und um diese rund 300.000 Euro jährlich einzusammeln, muss man da draußen Präsenz zeigen“, erklärt er. Nicht allen gefällt es, wenn er mit seiner Hospizmütze bei einer Feier aufläuft. Schon oft sei er dafür angeblafft worden, dass er mit seiner bloßen Anwesenheit die Stimmung kaputtmache. Er regt sich darüber nicht weiter auf. Es bestätigt ihn lediglich in der Überzeugung, weiter in die Öffentlichkeit gehen und den Menschen dann und wann auf die Füße treten zu müssen. „Ich bin weder ein Heiliger noch leide ich unter einer Helferklatsche“, sagt er. Henes ist nicht in göttlicher Mission unterwegs: Aber er übt eine Tätigkeit aus, für die er mit seinen Fähigkeiten und Überzeugungen wie gemacht zu sein scheint. Und er kam vor allem durch Pragmatismus zu ihr.

Mit der Hospizkappe erregt Henes schon einmal die Gemüter auf Veranstaltungen.

Henes wurde 1976 als Sohn eines Textilingenieurs und einer Medizinisch-Technischen Assistentin in Krefeld geboren und schlug sich mit eher mittelmäßigem Erfolg durch die Schulzeit. Weil er dem Bund zu dick war, absolvierte er den Zivildienst in der Pflege des damals noch bestehenden Krankenhaus in St. Tönis. Der Beruf der Mutter und die Tatsache, dass es viele Ärzte in der Familie gab, hatten mit der Entscheidung nichts zu tun: „Ich wollte etwas halbwegs Sinnvolles tun“, erklärt er. „Eigentlich hatte ich mit einer Tätigkeit im Freien geliebäugelt, beim NABU oder als Förster, aber das zerschlug sich.“ Die Zustände, die er während seiner Zeit als Pfleger vorfand, gefielen ihm nicht immer: Dass ein Sterbender kurzerhand in den Waschraum geschoben wurde, um Platz für einen Neupatienten zu schaffen, ist ihm im Gedächtnis geblieben als erschütterndes Beispiel dafür, wie wir mit dem Tod umzugehen pflegen. Manche werfen nach einem solchen Erlebnis resigniert das Handtuch, andere arrangieren sich damit und stumpfen ab, nicht so Henes: „Jeder kann Einfluss nehmen und versuchen, die Dinge zu ändern“, sagt er einen dieser Henes-Sätze, die einem verblüffend klarmachen, wie einfach die Dinge sein könnten, wenn wir es uns nicht immer wieder in Ausflüchten bequem machten.

Respekt im Umgang mit Menschen, egal welcher Herkunft oder welchen Ranges, war ihm immer wichtig. Ein Spruch des Vaters brannte sich Henes früh ein: „Gib‘ jedem die Hand, egal wie schmutzig sie ist.“ Während seines gesamten Berufswegs – als Pfleger im Krankenhaus, als Leiter der Pflege einer Rehaklinik, als Projektmanager im Health-Care-Sektor und bei der DRK-Schwesternschaft – blieb dieses Credo unveränderlich. Und wenn er merkte, dass seine Werte der Wirtschaftlichkeit zum Opfer fielen, zog er die Konsequenzen und orientierte sich um. „Ohne Rückgrat nutzt die Haltung nichts“, erklärt Henes den logischen Schritt, der freien Wirtschaft irgendwann den Rücken zu kehren. Sein natürlicher Wissensdurst und der Ehrgeiz, mit denen er nicht nur einen Bachelor- und zwei Masterstudiengänge, sondern auch zahlreiche Fortbildungen absolviert hatte, erleichterten ihm den Wechsel in neue Geschäftsbereiche und die Bewältigung neuer Herausforderungen. Dabei ging es ihm nie darum, die Karriereleiter emporzuklettern: Es war immer das Interesse an der Sache, an der persönlichen Weiterentwicklung, das ihn antrieb; und ihn schließlich in die karitativen Strukturen der DRK-Schwesternschaft führte. 

Im Raum der Stille nehmen Angehörige Abschied von den Verstorbenen.

Als sich die Möglichkeit bot, die Leitung des Hospiz zu übernehmen, musste Henes nicht lange nachdenken: „Ich hatte meine Vorgängerin Brigitte Schwarz einige Monate bei ihrer Arbeit unterstützt und außerdem meinen Großvater beim Sterben begleitet“, erinnert sich der St. Töniser, „von daher war dieses Umfeld nicht mehr neu oder gar abschreckend für mich.“ Sein Führungsstil hat sich in den vergangenen acht Jahren verändert, seine Philosophie aber nicht: allen Gästen des Hauses eine möglichst schöne Zeit zu verschaffen, ihnen einen letzten, innigen Wunsch zu erfüllen und schließlich einen menschenwürdigen Tod zu ermöglichen. Bei der Umsetzung dieser Philosophie duldet Henes keinen Kompromiss. „Es kommen nicht nur gute Menschen hierher“, gesteht er. „Aber in dem Moment, in dem sie hier sind, sind sie alle gleich. Der Obdachlose wie der Unternehmer, der Christ wie der Moslem. Jeder stirbt seinen eigenen Tod.“ Während der Pandemie kämpfte er wie die sprichwörtliche Löwenmutter dafür, dass trotz der Auflagen eine Weihnachtsfeier für die Gäste stattfinden konnte: „Die für die Absprachen zuständige Person sagte mir, ich könne ja im nächsten Jahr wieder eine machen“, rekapituliert er kopfschüttelnd. „Sie verstand einfach nicht, dass es für unsere Gäste kein nächstes Jahr gibt.“ Henes setzte sich durch, machte sich damit nicht nur Freunde, und blieb seinen Prinzipien auch unter erschwerten Pandemie-Bedingungen treu: „Ich bin stolz darauf, sagen zu können, dass in dieser schwierigen Zeit kein einziger Gast allein sterben musste, der das nicht ausdrücklich wollte. Unter Einhaltung aller notwendigen Vorgaben und Möglichkeiten.“

Ein Luxus, den auch zukünftig sicherzustellen eine der großen gesellschaftlichen Herausforderungen sein wird: Menschen werden älter und versterben später. Und nicht für jeden ist Platz im Hospiz. Am Blumenplatz gibt es gerade einmal 13 Betten – und damit ist es noch eines der größeren der Region. Henes arbeitet deshalb daran, den ambulanten Hospizdienst zu stärken, also die Sterbebegleitung zu Hause zu ermöglichen. Es ist eine der komplexen Aufgaben, die dafür sorgen, dass es ihm auch nach acht Jahren als Hospizleiter nicht langweilig wird. „Man lässt mich hier spielen, ich genieße große Freiheit – und ich habe ein großartiges Team, auf das ich mich immer verlassen kann“, sagt er. Wenn er sich noch einmal beruflich verändern sollte, dann würde er etwas ganz anderes machen. „Schafhirte auf Baltrum oder so“, lächelt er. Optisch würde er diese Aufgabe perfekt ausfüllen. Aber auch in dieser Funktion würde er sicher seinen ganz eigenen Weg gehen.


Sie haben einen persönlichen Krefelder Hero oder kennen jemanden, der sich ehrenamtlich engagiert und sich zum Wohle seiner Mitbürger einsetzt? Dann schicken Sie uns eine E-Mail und nominieren Sie Ihren Krefelder Hero! Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge!


Fotos: Felix Burandt
Artikel teilen: