Heroes in Krefeld

Wolfgang Müller: Der Blick durch die Krieewelsche Brille

„Wir sprechen eine Sprache!“: Das sagen wir, wenn wir eine tiefe Übereinkunft oder Verbundenheit mit einem anderen Menschen verspüren. Schon zu biblischen Zeiten war eine gemeinsame Sprache das Fundament für grenzüberschreitende Einigkeit, wenn man an die Geschichte vom Turmbau zu Babel denkt; eine Einigkeit, die leider durch göttliche Intervention und unterschiedliche Sprachen zunichte gemacht wurde. Auch für Wolfgang Müller ist die Erinnerung an den Gemeinschaftssinn, den er in seiner Kindheit, während seiner langjährigen Tätigkeit als Maschinenschlosser der Firma Küsters und später bei den Mundartabenden im Gietz erlebte, ganz eng an eine solche gemeinsame Sprache geknüpft: das Krieewelsche Platt. Kein Wunder, dass es im Zentrum seiner vielfältigen ehrenamtlichen Tätigkeiten stand, die ihn über 20 Jahre lang auf Trab hielten. Denn Wolfgang Müller ging es immer um den Zusammenhalt. In seinem Stadtteil Fischeln und darüber hinaus.

Wolfgang und Ursula Müller: Ein echtes Fischelner Paar.

Ein freundlicher, wacher Blick aus neugierig blitzenden, schelmischen Augen, ein fester Händedruck und dann dieser typische niederrheinische Singsang: „Kommse rein!“ Man fühlt sich gleich heimisch im Fischelner Haus der Müllers und man versteht, warum „DäWoMü“ auch heute noch ständig angesprochen wird, wenn er über die Kölner Straße durch sein Fischeln schlendert – ein bisschen wie ein Popstar von seinen Fans. Verspätungen des Gatten stehen im Hause Müller demnach an der Tagesordnung. Wieder blinkt es schelmisch aus seinen Augen, als Ehefrau Ursula einen typischen Dialog nachstellt: „Ich frage ihn immer: Wo bist du denn gewesen? Und er sagt dann nur: Ach, ich habe da wieder jemanden getroffen.“

Dabei ist Wolfgang Müller kein gebürtiger Fischelner: 1936 kommt er in der Innenstadt zur Welt, wächst bei seinen Eltern – der Vater Rheinbahner, die Mutter Hausfrau – auf der Roßstraße auf. Als Wolfgang 16 ist, verstirbt sein Vater. Weil die alleinstehende Mutter das Schulgeld nicht länger aufbringen kann, beginnt der Junge eine Ausbildung als Maschinenschlosser. Seine nötige Qualifikation stellt der Chef mit einem kurzen Griff an den Bizeps fest. Die weitere Laufbahn führt ihn 1972 schließlich zur Firma Küsters, wo er die ersten computergestützten Maschinen steuert. Er strahlt über das ganze Gesicht, wenn er sich an seinen langjährigen Arbeitgeber erinnert. Die ganze Belegschaft „kallt“ Platt, das wie ein Gleichmacher fungiert, Lockerheit im Umgang bringt und das Gemeinschaftsgefühl stärkt: Der Chef spricht dieselbe Sprache wie seine Angestellten, dafür gehen sie für ihn durch dick und dünn. „Wir waren alle Freunde, jeder ist für den anderen eingestanden. Wenn mal ein Sondereinsatz am Wochenende erforderlich war, hat keiner nein gesagt. Und der Chef hat belegte Brötchen und einen Kasten Bier gespendet“, berichtet er. Auch Ursula, seine zweite Ehefrau, lernt er hier kennen. Die Freistellung im Jahr 1993, nach über 20 Jahren Betriebszugehörigkeit, trifft den Wahl-Fischelner entsprechend hart. „Er ist in ein richtiges Loch gefallen“, erinnert sich die Gattin an die schwere Zeit. „Wenn ich ihn aus dem Büro anrief und fragte, was er macht, sagte er nur ,Nichts‘.“ Doch eine Freundin gibt den entscheidenden Tipp: Im Bürgerverein Fischeln suche man immer Leute, die mithelfen, weiß sie. Das sei doch garantiert was für Wolfgang! Und das ist es: 1993 tritt er in den BV Fischeln ein, 1998 wird er Geschäftsführer und 2002 beruft man ihn in den Vorstand, dem er bis 2008 als 1. Vorsitzender angehört. Müller organisiert zahlreiche Veranstaltungen und Bürgerfeste, ist Mitbegründer des Stadtarchivs, das seinen Sitz heute im Fischelner Rathaus hat, tritt dem St.-Martins-Ausschuss bei und ruft unter dem Motto „Wir kalle Platt“ Mundartabende ins Leben, die 20 Jahre lang – von 1998 bis 2018 – für schallendes Gelächter und ein ausverkauftes Haus sorgen.

Pflichtlektüre im Hause Müller.

Zuerst ist es eine Schnapsidee: ein munterer Abend mit selbst geschriebenen und von Freunden auf die Bühne gebrachten Sketchen auf Platt. Bei der Bühnendeko mit alten Möbelstücken orientiert man sich ein bisschen am beliebten Ohnsorg-Theater aus Hamburg, die burlesken Schwänke kommen aus Wolfgangs Feder und enden stets mit einer knackigen Pointe, die gern auch ein bisschen anzüglich sein darf. Die Ideen für Sketche wie den „Digitalen Beichtstuhl“ kommen Müller im Alltag, beim Spazierengehen, Zeitunglesen oder Fernsehen. Alles schreibt er auf, sein Tisch ist teilweise übersät mit Blättern, auf denen er sich Notizen macht, wann immer die Eingebung kommt. Veranstaltet werden die Mundartabende im Saal des Gasthauses Gietz, der bald schon aus allen Nähten platzt. „Wie die Ölsardinen saßen die Leute da irgendwann drin“, blickt Müller auf ruhmreiche Zeiten zurück. „Ich weiß gar nicht, ob man das heute noch dürfte.“ Anfänglich auf einmal im Jahr angesetzt, finden die Abende aufgrund der riesigen Nachfrage irgendwann dreimal jährlich statt – und sind binnen weniger Stunden restlos ausverkauft. Bei den Witzen von Müller bleibt kein Auge trocken, der Saal tobt. „Wenn die Leute mich am nächsten Tag auf der Straße gesehen haben, haben sie mir zugerufen: ,Nä, woar dat schün jestern!’“ Bekanntheit unter den jüngeren Fischelnern erlangt Müller außerdem als „armer Mann“ bei den Fischelner St.-Martins-Umzügen. Insgesamt 20 Jahrelang schlüpft er in die Lumpen des Bettlers, mit dem der heilige Martin seinen Mantel teilt, spielt die Rolle so überzeugend, dass er teilweise von seinen besten Freunden nicht erkannt wird, wenn er sich den Weg durch die Menge zum Martinsfeuer bahnt. Nur die Kinder kann er nicht täuschen: „Du bist ja gar nicht arm, du hast ja ’ne Uhr an!“, sagt eines zu ihm.

Den Menschen eine Freude zu machen, sie zum Lachen zu bringen, dem Ernst des Lebens etwas Spaß entgegenzusetzen: Das ist Müllers Antrieb. Es gibt kaum etwas Schöneres für ihn, als seine „Dönekes“ zu machen, Streiche zu Spielen oder sich Witze auszudenken. Die Sprache ist dabei von essenzieller Bedeutung für ihn: Das Platt ist einerseits die Brille, durch die er die Welt sieht, aber auch die Hand, die er seinem Publikum reicht. „Ich denke Platt“, bestätigt er, ohne eine Sekunde zu überlegen. Das Leben wird einfacher, die Sorgen kleiner, der Ärger vergeht schneller, wenn man ihm mit Krieewelsch auf den Leib rückt. Zur Illustration erzählt Müller eine Anekdote aus seiner Jugend, eine von vielen an diesem Vormittag im Spätsommer: Er musste für den Hauswirt der Mutter, einen dicken Mann mit Zigarre, ein defektes Türschloss reparieren. Als er mit dem Hammer ausholte, flog der Hammerkopf vom Stiel ab und nur ganz knapp an der Zigarre und dem Gesicht des Hauswirts vorbei. Der jedoch blieb ganz ruhig und sagte nur: „Dat hätt joot in de Fress kumm künne!“ Müller kann über diese Geschichte heute noch genauso lachen wie damals. Dabei war der Dialekt in seinem Elternhaus zunächst verpönt: Es war erst ein Nachbar, der Wolfgangs Mutter unmissverständlich klarmachte: „Dä Jung mutt Platt künne!“ und ihn anschließend in die Feinheiten der Sprache unterwies. ,Broenärpel‘ ist das erste Wort, das er lernt. Bratkartoffeln. Später wird seine Begeisterung in richtige Forschungsarbeit ausarten, als er mit seinem Freund Heinz Webers ein Krieewelsches Wörterbuch erarbeitet und tief in grammatikalische Feinheiten des geliebten Dialekts eintaucht. Vielleicht hat das Platt wirklich therapeutische Wirkung für Müller gehabt, denn er übersteht auch einige harte Schicksalsschläge: Sowohl seine erste Frau Waldtraud als auch seinen ältesten Sohn muss er frühzeitig beerdigen.

Müllers Buch mit Kurzgeschichten ist mittlerweile vergriffen.

In den vergangenen Jahren ist es etwas ruhiger geworden im Leben der Müllers. Corona machte den Mundart-Abenden einen Strich durch die Rechnung. Die Geschicke des Bürgervereins liegen in jüngeren Händen, seinen Mantel teilt St. Martin mit einem anderen Bettler. Urkunden wie der Evonikpreis, das Stadtsiegel der Stadt Krefeld oder der Ehrenpreis der Akademie für Brauchtum, Kultur und Sport hängen sorgfältig gerahmt als Andenken an die vielseitigen Aktivitäten und die Anerkennung der Stadt in der guten Stube. Auch das Büchlein mit den Mundart-Geschichten, das Müller geschrieben hat, ist längst vergriffen. Auf eine Neuauflage angesprochen, lacht er nur, dabei schlummern gewiss noch viele gute Ideen in ihm. Ein Sketch über eine Welt ohne diese komischen Apps zum Beispiel, oder über seinen Mähroboter, in den der Blitz eingeschlagen ist. Man spürt: So ganz wohl fühlt er sich mit seinem Ruhestand noch nicht, trotz seiner 88 Jahre. Wolfgang Müller hat seinen Fischelnern immer noch etwas zu sagen. Und er kennt ihre Sprache wie kein zweiter. Diese Sprache, die alle Unterschiede überwindet, und die Menschen im Gelächter vereint.
In der Print-Ausgabe wurde fälschlicherweise Melanie Struve als Autorin dieses Textes genannt.


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Fotos: Lucas Coersten, Grafik: Michael Strogies
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