Der Blick aus dem Fenster geht über die Felder zwischen Krefeld und St. Tönis. In der Ferne fahren Autos, aber ihre Motoren hört man nicht. In ihrer kleinen Wohnung schaut Marlies Knops auf ein reiches, aufregendes Leben zurück. Ein Leben, an das zahlreiche Andenken und Fotos erinnern: Bilder ihres vor 18 Jahren verstorbenen Ehemanns Heinz, ihrer Eltern, Groß- und Schwiegereltern, der Backstube Knops sowie natürlich ihrer beiden Kinder Vera und Lothar, ihrer Schwiegertochter Petra und Enkeltochter Johanna. Vor kurzem ist die 85-Jährige mit dem Preis des Ehrenamts der Stadt Krefeld ausgezeichnet worden: Über 50 Jahre lang, von 1965 bis 2019, so genau weiß sie es nicht mehr, organisierte sie den St.-Martins-Umzug im Quartier Grönland. Aber das allerwichtigste in ihrem Leben ist die Familie, die sie hier umgibt. Sie sei ein glücklicher Mensch, sagt sie aus vollem Herzen, weil sie weiß, dass dieses Glück keine Selbstverständlichkeit ist.
Seit rund 18 Monaten tobt in Europa wieder ein Krieg. Wenn Marlies Knops die Nachrichten schaut, ruft das Bilder vor ihrem geistigen Auge hervor, die sie nie wiedersehen wollte. Sie war gerade einmal fünf Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter vor den Bomben aus Krefeld floh. „Eine schlimme Zeit“, sagt sie und man kann nur ahnen, was sich dahinter verbirgt. Die Erlebnisse der Kriegsjahre haben sie für immer geprägt – und auch ihr jahrzehntelanges eherenamtliches Engagement inspiriert. Dabei kam sie zu den St.-Martins-Umzügen „wie die Jungfrau zum Kind“, wie sie schmunzelnd zugibt. „Mein Ehemann überredete mich dazu. ,Marlies‘, sagte er, ,möchtest du das nicht machen?‘ Ich übernahm die Aufgabe und als ich beim Martinsspiel die großen leuchtenden Augen der Kinder sah, war es um mich geschehen.“ Die Aufgabe – die Akquise der Sammler und des St. Martins, der Kapellen und Pferde, das Bestellen der Tüten und Weckmänner, das Absperren des Weges und die Abstimmung mit den Behörden – ließ sie nicht mehr los, auch wenn sie im schönsten Krieewelsch gesteht, dass es zwischendurch mehrere Versuche gab, sie wieder „quitt zu werden.“ Woher sie die Kraft nahm, nicht nur die Umzüge zu organisieren, sondern auch noch zwei Kinder großzuziehen, drei Geschäfte zu betreiben, ihre Mutter und Schwiegermutter zu pflegen und eine schwere Krebserkrankung mit sechs Operationen zu überstehen, kann sie sich selbst nicht erklären. Aber wenn man ihre Geschichte hört, versteht man es doch.
Als Marlies Knops 1938 als Frühchen drei Monate vor dem errechneten Entbindungstermin im Elternhaus auf der Gerldernschen Straße das Licht der Welt erblickte, wog sie gerade etwas über ein Kilogramm. Damit nicht genug, auf dem Weg ins Isidor-Hirschfelder-Säuglingsheim krachte der Arzt mit seinem Wagen auch noch gegen einen Baum. Wie durch ein Wunder überlebte die kleine Marlies, erstes Zeichen einer enormen Lebenskraft, die sie immer wieder unter Beweis stellen sollte. Als der Krieg begann, wurde Vater Peter in Lauenburg in Pommern stationiert. Marlies wuchs bei ihrer Mutter Käthe und ihren Großeltern auf der Ottostraße auf. Nach dem schweren Bombenangriff auf Krefeld am 22. Juni 1943 rief der Vater seine Gattin und die Tochter zu sich in den Osten, wo der Krieg noch nicht angekommen war. Doch der vermeintliche Friede währte auch dort nur ein Dreivierteljahr: Die Russen marschierten ein, Vater Peter wurde an die Front beordert und die Mutter machte sich mit dem kleinen Mädchen im Flüchtlingstreck auf den beschwerlichen Weg nach Danzig. Es hieß, dass von dort aus Schiffe in See stechen würden, um deutsche Flüchtlinge in Sicherheit zu bringen. Marlies verstand natürlich nicht, was da um sie herum passierte, nur dass sie auf gar keinen Fall den Russen in die Hände fallen durften, wie ihre Mutter immer sagte. Auf dem beschwerlichen Weg ins Ungewisse erlebten die beiden unvorstellbares Leid. „Wir wateten in der bitteren Kälte tagelang durch den Schnee. Neben uns ging eine Frau, die ihr totes Baby auf dem Arm trug. Irgendwann konnte sie es nicht mehr halten und begrub es im Schnee“, berichtet Marlies Knops. Mit 7.000 Menschen wurden die beiden schließlich auf ein Schiff getrieben, dass sie nach Dänemark bringen sollte, doch in Sicherheit waren sie damit immer noch nicht: „Auf der Überfahrt verstummte plötzlich der Motor“, berichtet die Seniorin. „Ein Pastor kam die lange Holzteppe in den Laderaum herunter. Er sagte ,Wir sind getroffen und werden das Festland nie wiedersehen.‘ Gemeinsam sangen wir ,So nimm denn meine Hände‘ …“ Tränen schießen der alten Dame in die Augen, als sie sich an den furchtbaren Moment und die Angst vor dem sicheren Tod erinnert. Doch der Crew gelang es wider Erwarten, das Schiff wieder flott zu machen und so landeten Käthe und Marlies im Flüchtlingslager in Dänemark, zwischen Stacheldrahtzäunen in Baracken eingepfercht mit 22.000 anderen Deutschen, die aus Pommern geflohen waren. „Uns wurde jeden Tag eine warme Mahlzeit und eine Scheibe Brot zugesichert, doch die bekamen wir nur selten. Wir litten entsetzlichen Hunger.“ In der allergrößten Not erfährt Marlies aber auch immer wieder die Zuwendung völlig fremder Menschen. „Nach einem halben Jahr bekamen wir einen Passierschein, mit dem wir das Lager für einen Arztbesuch verlassen durften. Mutti brachte mich zu einer Ärztin und die gab uns einen Zettel, auf dem eine Adresse stand. Dort wohnten zwei dänische Frauen, die den ganzen Tag Butterbrote für die Flüchtinge schmierten“, erzählt Marlies Knops. Den Geschmack der Käse- und Salamibrote hat sie nie mehr vergessen: „Es war wie ein Freudenfest“, strahlt sie geradezu. Sie erlebt auch unbeschwerte Zeiten im Lager, vor allem mit den anderen Kindern, aber der Hunger war allgegenwärtig. Der größte, alles überstrahlende Wunsch: Sich nur einmal richtig sattessen zu können. „Was muss das für Mutti bedeutet haben, ihr Kind so leiden zu sehen?“, fragt die Krefelderin sich noch heute.
Die erfahrene Not, aber eben auch die Hilfsbereitschaft von Menschen, die dazu eigentlich nicht verpflichtet waren, haben Marlies Knops später selbst dazu bewogen, sich für andere einzusetzen und etwas Freude zu schenken. Im Bürgerverein Grönland, benannt nach dem grünen, damals noch unbebauten Land jenseits des Rings, engagierte sie sich nicht nur mit der Organisation der St.-Martins-Umzüge, für Senioren rief sie auch einen Chor ins Leben und veranstaltete regelmäßige Ausflugsfahrten – immer neben ihren anspruchsvollen Aufgaben als Geschäftsfrau, Ehefrau, Mutter und Tochter pflegebedürftiger Angehöriger. Die Festivitäten rund um ihre Auszeichnung mit dem Preis des Ehrenamtes sind ihr dennoch ein bisschen unangenehm: „Wenn ich gewusst hätte, was da für ein Brimborium um mich gemacht wird …“, schüttelt sie den Kopf. „Ich finde, wir Menschen nehmen uns alle viel zu wichtig!“ Auch das eine Überzeugung, die sie aus dem Krieg mitgebracht hat. Aber natürlich freut sie sich über die Anerkennung für ihr Engagement. Wichtiger ist ihr aber die Zuwendung ihrer beiden Kinder, die sofort da sind, wenn sie ruft. Die Familie geht ihr über alles, das hört man aus jedem ihrer Sätze heraus. Sicherlich auch, weil es mehrere Jahre nicht klar war, ob sie diese Familie je wiedersehen würde.
Nach rund 20 Monaten endete für Käthe und Marlies die Zeit im Lager, aber auch die Rückkehr nach Krefeld war ein Abenteuer. Keiner der Angehörigen wusste schließlich, wo die beiden gewesen waren. Und umgekehrt wussten auch Käthe und Marlies nicht, wo sie ihre Familie finden würden – und ob diese überhaupt noch lebte. In Krefeld waren ja viele Stadtviertel und Häuser zerstört worden. Ein aus Verzweiflung an die Schrebergartensiedlung geschickter Brief landete aber tatsächlich in den Händen der Großeltern, deren Antwort Monate später in Dänemark ankam. Am 23. Dezember 1945 stiegen Käthe und Marlies nachts um 12 am Krefelder Hauptbahnhof aus dem Zug und sahen endlich, nach Jahren der Ungewissheit, ihre Familie wieder. Nur Vater Peter blieb vermisst. Das letzte, was sie von ihm hörten, war ein Brief aus Wetzlar. „Als Mutti starb, fand ich in ihrem Nachlass dutzende Briefe, die sie an verschiedene Organisationen geschrieben hatte, um ihren Mann zu finden“, berichtet Marlies Knops. „Ohne Erfolg. Wir haben nie erfahren, was mit ihm passiert ist.“ Marlies Knops hat keinerlei Erinnerungen mehr an ihren Vater. Und über die gemeinsamen Erlebnisse hat sie mit ihrer Mutter nie wieder gesprochen.
Zurück in Krefeld wartete eine ganz neue Herausforderung auf das siebenjährige Mädchen, denn es hatte ja nie lesen und schreiben gelernt. „Nur Kopfrechnen konnte ich, denn Mutti hat im Lager immer Rechenaufgaben mit dem Stock in den Sand geschrieben“, lacht Marlies Knops. Mithilfe einer Lehrerin, die ihr kostenlose Nachhilfe gab, holte das junge Mädchen den Rückstand langsam auf und machte schließlich ihren Abschluss. Nach der Schule arbeitete sie dann bei der Verseidag und absolvierte eine Ausbildung zur Bürokauffrau. Und dann lernte sie den Bäcker Heinz Knops kennen und lieben, den jüngsten Spross einer alteingesessenen Krefelder Bäckerfamilie und begnadeten Musiker. „Es war Liebe auf den ersten Blick“, gesteht die Krefelderin. Nach nur einem Monat waren die beiden verlobt, nach fünf Monaten gaben sie sich das Ja-Wort. An der Wand hängt immer noch eine hölzerne Spekulatius-Backform, mit der in der Bäckerei Knops früher die leckeren Weihnachtsplätzchen hergestellt wurden. „Die waren so lecker“, lacht die Dame. Trotz der harten Arbeit, die sie jahrelang leisten musste, kommt keine Klage über ihre Lippen. „Abends, wenn wir den Laden zugeschlossen, die Kasse gemacht und den Backzettel erstellt hatten, saßen Heinz, Mutti, meine Schwiegermutter Berta und ich immer noch bei einem Bierchen oder Schnäpschen zusammen und unterhielten uns“, schaut sie zurück. „Dann ging es ins Bett, denn mein Mann musste um drei und ich um fünf schon wieder aufstehen. Und so ging das sieben Tage die Woche.“ Die Zeit, in der die beiden Familien gemeinsam in der Etage über der Backstube auf der St. Töniser Straße lebten, bezeichnet Marlies Knops heute als die schönste ihres Lebens. „Wir haben uns so gut verstanden, sind zusammen in den Urlaub gefahren … Ich bin sehr dankbar für diese Zeit, denn ich habe so viel Liebe, Anerkennung und Dankbarkeit erfahren“, blickt sie zurück. Es ist schön zu hören, wie sich nach den furchtbaren Kriegsjahren doch noch alles zum Guten für sie wendete. Vor kurzem hat sie ihre Erfahrungen in einem Buch für ihre Kinder niedergeschrieben: „Es ist wichtig, dass das nicht in Vergessenheit gerät“, sagt sie ernst. „Denn das darf nie wieder passieren. Und es hilft vielleicht auch zu verstehen, in welch paradiesischen Umständen wir hier heute leben. Wenn ich höre, worüber sich manche Menschen aufregen, denke ich nur: Ihr müsstet nur eine Woche von dem erleben, was ich erlebt habe.“
Marlies Knops begleitet uns mit ihrem Rollator zur Tür. Bald ist wieder St. Martin. Dann wird sie ihre kleine Wohnung verlassen, sich das Martinsspiel ihres Quartiers anschauen und ihren Nachfolgern die Daumen drücken. Der Krieg ist dann ganz weit weg. Aber ihre Familie ist ganz nah bei ihr.
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