Heroes in Krefeld

Jörg Enger: Aha-Erlebnis für jeden Muulbaas

Gut gelaunt und nie um eine gute Idee verlegen: Jörg Enger.

Wenn die Dinge festgefahren und aussichtslos erscheinen, kann es helfen, die Perspektive zu wechseln. Zum Beispiel auf die eigene Stadt. So forderte etwa das Stadtmarketing Krefelder Bürger in den vergangenen Jahren mit verschiedenen Projekten und Aktionen unter dem Namen „Perspektivwechsel“ dazu auf, Krefeld von einer anderen Seite aus zu betrachten. Jörg Enger, hauptberuflich Autosattler, der sich auf die Herrichtung von Oldtimern spezialisiert hat, braucht für diesen Perspektivwechsel aber nicht erst die Anregung von außen: Er vollzieht ihn seit Jahren jeden Tag ganz bewusst – und ist damit zu einem versierten Kenner Krefelds, seiner Einwohner und Attraktionen geworden. Mit seinem vielfältigen ehrenamtlichen kulturellen Engagement trägt er darüber hinaus nicht nur selbst seinen Teil dazu bei, Krefeld zu einem lebenswerten Ort zu machen, er spornt uns alle dazu an, es ihm gleichzutun.

Jörgs hervorstechendste Eigenschaft erschließt sich einem schon sehr schnell: Er ist offen, kommunikativ und immer zu einem Scherz aufgelegt. „Ich dachte, ich mache es mir mal bequem“, grüßt er von der Ladefläche eines Transporters, dessen Innenausstattung er gerade einer Überholung unterzieht. Eine andere wichtige Facette seiner Persönlichkeit zeigt sich, wenn man sich dann in seiner Oldtimer-Werkstatt an der Moerser Straße umschaut: Jörg umgibt sich gern mit schönen, alten Autos – und er liebt das kreative Chaos. „Das Wörtchen ,Nein‘ gehört leider nicht zu meinem Wortschatz“, schmunzelt er leicht resigniert mit Blick auf einen alten Ford Capri, der hinter einigen alten Möbelstücken in einer Ecke der Halle unter einer Wolldecke schlummert. „Ein Freund fragte mich, ob er ihn für ein paar Wochen bei mir unterstellen könne. Seitdem sind vier Jahre vergangen.“ Ganz sicher hat der gute Geschmack des Freundes Jörgs Bereitschaft zur Gefälligkeit positiv beeinflusst: Wenn es um Autodesigns geht, um alte und neue Modelle, gerät der 55-Jährige schnell ins Fachsimpeln, Schwärmen und Philosophieren, streut auch schon einmal einen Exkurs zum Thema Industriehistorie ein: „Bloß nicht mitschreiben, das liest doch keiner“, winkt er lachend ab. Aber man erkennt in der Wissbegier, dem Bedürfnis, Zusammenhänge zu begreifen, und dem Blick fürs Detail, die in seinen Ausführungen zum Ausdruck kommen, auch das Fundament für die Vielzahl verschiedener Projekte, mit denen Enger Krefeld nun schon seit weit über zehn Jahren bereichert: Der Mann probiert gern neue Sachen aus.

Enger engagiert sich, um Krefeld mit dem zu bereichern, was er in seiner Heimat selbst vermisst.

„Aus Anlass des Stadtjubiläums haben wir im Kollektiv KR.6.fuffzig wieder viele Projekte und Aktionen geplant“, hebt er an. Eine Brahms-Matinee im Südbahnhof etwa, weil der Komponist, der enge Verbindungen in die Samt- und Seidenstadt hatte, in diesem Jahr zufällig auch seinen 190. Geburtstag feiert. „Das hatte hier überhaupt keiner auf dem Schirm!“, zeigt er sich erstaunt. Ferner stellt Enger eine Schallplatte zusammen, auf der lokale Musiker Lieder eines der wohl unbekanntesten Söhne der Stadt vertonen: „Kurt Feltz textete über 3.500 Schlager von den Dreißigerjahren bis zu seinem Tod im Jahr 1982. Jeder der Rang und Namen hatte, hatte ein Stück von ihm im Programm. Aber kaum einer kennt ihn heute noch“, berichtet der Mann mit dem blaugefärbten Haarschopf. „Die Projekte, die ich initiiere, sind meist Sachen, die ich selbst in Krefeld vermisse oder mir wünschen würde.“ So gibt er in Kürze einen Stadtplan der Innenstadt heraus, auf dem außergewöhnliche Geschäfte, empfehlenswerte Gastronomien oder Sehenswürdigkeiten verzeichnet sind. „Jede Stadt hat so etwas, nur Krefeld nicht“, fasst er sein Unverständnis in Worte. Das Kochbuch mit niederrheinischen Rezepten, das er Ende des Jahres veröffentlichen möchte, entpuppt sich indes als echte Mammutaufgabe, weil sie unter anderem die Transkribierung aus dem Sütterlin, die Recherche von in Vergessenheit geratenen Zutaten sowie die Umrechnung von Maßangaben beinhaltet. „Ich habe Hunderte von handgeschriebenen Rezepten zu Hause und hätte nie gedacht, welche Arbeit dahinter steckt, sie nutzbar zu machen. Für den Privatgebrauch macht man sich ja nicht immer die Mühe, genaue Mengenangaben zu notieren, aber in einem Rezeptbuch braucht man die natürlich.“

Jörgs Engagement begann vor rund fünfzehn Jahren mit der mittlerweile ruhenden Talkshow „Lott ens schwaade“. Der im St. Töniser Krankenhaus geborene Krefelder erinnert sich: „Ich war auf einer Party und lauschte einem angeregten Gespräch zweier Freunde über einen Mexiko-Urlaub. Irgendwann fragte ich sie, wann sie sich denn zum letzten Mal in Krefeld umgesehen hätten, weil es hier ja auch jede Menge zu entdecken gäbe. Sie glaubten mir natürlich nicht. Mit der Talkshow trat ich an, um ihnen das Gegenteil beweisen.“ Eine inoffizielle Fortsetzung feiert er derzeit mit dem Videopodcast „KR65+“ : „Ich lasse Senioren zu Wort kommen und über persönliche Krefelder Erinnerungsorte sprechen. Zum Beispiel über das nicht mehr existierende Büdchen, hinter dem man die erste Zigarette rauchte. Ich möchte so eine Art lokales Gedächtnis bewahren.“

Jörgs Überzeugung, dass Krefeld eine spannende, lebenswerte Stadt ist, entspringt aber keinesfalls dem Zweckoptimismus, den „offizielle“ Sprecher oft an den Tag legen. „Man muss schon auch die Probleme benennen können, von denen es hier eine Menge gibt“, sagt er. Daher beklagt er auch unsinnige Ausgaben oder die Regelungswut, mit der gute Ideen oder ehrenamtliches Engagement oft im Keim erstickt werden: „Bei mir vor dem Haus war der Gehsteig beschädigt. Ich bot an, selbst das Unternehmen zu beauftragen, die nötigen Reparaturarbeiten vorzunehmen. Das sei nicht gestattet, hieß es. Ich habe dann irgendwann erfahren, dass man angrenzende Pflasterarbeiten selbst machen darf, wenn man eine Patenschaft für eine Baumscheibe übernimmt. Also werde ich Baumpate, um den Gehsteig reparieren zu können. Das ist doch absurd.“ Sein Engagement bei der Wählergemeinschaft „wir. Machen. Krefeld“ beendete Enger, weil er merkte, dass eine gute Idee in der Politik nur dann Zustimmung findet, wenn sie aus den eigenen Reihen kommt. „Wenn jemand eine gute Lösung hat, muss es egal sein, welches Parteibuch er besitzt!“, ist er überzeugt. Also tut er die Dinge, die er für richtig hält, aus persönlichem Antrieb heraus – und wünscht sich, dass andere seinem Beispiel folgen. „Ich sehe bei vielen Menschen so eine Art Vollkasko-Mentalität. Viele glauben, sie hätten ihre Schuldigkeit damit getan, dass sie Steuern zahlen. Wenn dann irgendwas nicht stimmt, wird auf die Stadt geschimpft. Die Stadt hier, die Stadt da… Aber wer ist denn die Stadt? Das sind wir alle! Wenn jeder selbst etwas mehr tun würde, anstatt sich darauf zu verlassen, dass die Politik ihm das abnimmt, würden wir alle davon profitieren.“ Das Meckern gehöre indes zu Krefelds DNA wie wahrscheinlich zu kaum einer anderen Stadt: „Im Krieewelsch gibt es sogar ein Wort dafür: Muulbaas. Das ist quasi der Meckerchef“, lacht er.

Jene Meckerer meldeten sich auch zu Wort, als Enger vor vier Jahren das Electric Mushroom Festival auf dem Theaterplatz mitinitiierte, ein Gratisfestival für elektronische Musik. Wie soll das denn an diesem Ort funktionieren!? „Ich wollte beweisen, dass man so etwas in Krefeld machen kann, mitten in der Stadt, auf dem berüchtigten Theaterplatz. Ich habe mit elektronischer Musik eigentlich gar nichts am Hut, aber das war mir egal. Ich wollte eine Gelegenheit schaffen, bei der Krefelder gemeinsam feiern können.“ Das Experiment gelang, alle Bedenkenträger wurden widerlegt – aber Enger und seine Mitstreiter zahlten am Ende ordentlich drauf. „Wir sind alle mit mehreren Tausend Euro Verlust da rausgegangen. Und die Rahmenbedingungen haben sich seither noch verschärft. Das ist auch der Grund, warum wir keine Wiederholung geplant haben. Aber es war trotzdem ein gelungenes Event!“

Wenn Jörg Enger über Krefeld spricht, hört man vor allem eines: Leidenschaft. „Ich bin immer wieder begeistert, was es hier alles zu entdecken gibt. Nicht nur Neues: Manchmal stolpere ich über Unternehmen oder Einrichtungen, die schon seit Jahrzehnten existieren, ohne dass sie mir je aufgefallen sind. Direkt hier nebenan zum Beispiel ist eine Firma, die Backformen herstellt. In Richtung Hüls gibt es ein Papiertheater, einen Ein-Mann-Betrieb, der große Aufführungen mit selbstgebastelten Papierfiguren macht. Man muss nur die Augen aufhalten und aufgeschlossen sein, dann wird man immer wieder überrascht!“ Er hat dann auch einen guten, praktischen Tipp: „Ich selbst versuche, nie denselben Weg zu nehmen, wenn ich irgendwo hin muss, sondern immer wieder andere Straßen zu benutzen. Und wenn ich an einer Hofeinfahrt vorbeikomme, gehe ich auch schon einmal rein, um zu schauen, was es da gibt.“ Manchmal reicht ein Perspektivwechsel tatsächlich aus, um zu einer neuen Sicht auf die Dinge zu gelangen. Wie wäre es also, wenn wir Jörg Engers Beispiel folgen würden? Dann wäre Krefeld nicht länger von Muulbaas bevölkert, sondern von staunenden Entdeckern!


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