Die Ukraine sei wie Borschtsch, sagt ein Sprichwort: „Es gibt so viele Varianten, wie es Köche gibt.“ Im zweitgrößten Staat Europas leben Ukrainer, Krimtataren, Polen, Russen, Ungarn, Armenier, Griechen und Deutsche auf einer Fläche von 603.700 Quadratkilometern. Aber Hand aufs Herz: Wer hat die in Osteuropa beliebte Suppe aus Roter Bete und Weißkohl schon probiert? Was wissen wir über dieses Land – außer dass es am 24. Februar von Russland überfallen wurde? Und wie fühlt es sich an, seine Heimat Hals über Kopf verlassen zu müssen? Über eine Million Geflüchtete sind inzwischen allein in Deutschland registriert worden. Eine davon ist Olga Ianushevych. Seit ihrer Flucht aus Kyjiw hat die Juristin und Mutter von drei Kindern hier viel Unterstützung erfahren. Mit einem starken Netzwerk setzt sie sich nun für die Menschen in der Ukraine ein. Denn ein Ende des Kriegs ist nicht in Sicht – und wir können immer noch helfen.
Der Ort des Interviews will nicht so recht zum Thema passen: Wir sind mitten in Düsseldorf verabredet, umgeben von Bürotürmen und Gerichtsgebäuden, in denen Menschen verkehren, die an Bildschirmen arbeiten, zum Lunch auf den Carlsplatz gehen und abends in ein sicheres Zuhause pendeln. Olga Ianushevych wird uns an diesem Dienstagmorgen in einem nüchternen Besprechungsraum ihre Geschichte erzählen – und es könnte durchaus emotional werden, denn es geht um den Ukraine-Krieg, eine Flucht nach Deutschland und die Hilfe des Marketing Club Krefeld e.V., hieß es in dem Briefing der Redaktion.
Schon die Vorrecherche offenbart, wie groß die Wissenslücken über Olgas Heimatland sind und wie viel größer manche Vorurteile. So hatte CDU-Chef Merz im September sogar einen „Sozialtourismus“ ukrainischer Flüchtlinge beklagt, ohne dafür Belege zu präsentie- ren – und sich erst nach einem Sturm der Empörung eher halb- herzig entschuldigt. In der Presse finden sich seit 2015 zahlreiche Diskussionen über die politisch korrekte Begriffswahl für Menschen, die nach Deutschland zuwandern: Flüchtlinge, Migranten oder Geflüchtete? Und spätestens jetzt, als die 39-jährige Olga im gut sitzenden Businessanzug und auf hohen Absätzen den Raum betritt, ertappen wir uns selbst bei mehr als einem Klischee: Muss eine Frau, die ihre Heimat „wegen politischer Zwangsmaßnahmen, Kriegen oder lebensbedrohlicher Notlagen verlassen hat“, nicht arm aussehen, niedergeschlagen wirken und wahrscheinlich gebrochenes Englisch reden? Nicht unbedingt. Die Juristin begrüßt uns freundlich per Handschlag, sie spricht fehlerfreies Deutsch mit ganz leichtem Akzent und entschuldigt sich für die Verspätung, weil der Zug aus Essen nicht pünktlich eingetroffen sei. Das hier könnte auch ein ganz normales Arbeitstreffen unter Kollegen sein. Wären da nicht der ernste Blick und eine kaum vorhandene Körpersprache der zierlichen Ukrainerin, die sich bis Anfang 2022 in einer Rechtsanwaltskanzlei in Kyjiw mit Unternehmensrecht, Arbeitsmarkt und Steuern befasste. „Wir haben bis zuletzt nicht daran geglaubt, dass es passiert“, sucht sie nach passenden Worten für eine Situation, die weltweit für Entsetzen, aber auch für eine immense Hilfsbereitschaft vieler Menschen gesorgt hat.
Erst im Januar habe sich ihr Arbeitgeber dem weltweiten Netzwerk MSI Global Alliance angeschlossen, das unabhängige Rechtsberatungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften aus über 100 Ländern auf fachlicher wie freundschaftlicher Basis verbinde, klärt Diplom-Kaufmann Tobias Polka uns auf, wie es zu der Begegnung mit Olga kam. „Ich schrieb kurz nach dem russischen Überfall eine Mail an den Firmeninhaber und bot Hilfe an. Der Rückruf kam schnell und auch unerwartet“, gibt er zu. „Und so waren wir plötzlich mit der Frage konfrontiert: Können wir drei Erwachsene und fünf Kinder unterbringen?“ Er vergleicht die Situation mit einem Erste-Hilfe-Kurs und wenig Praxis: „ Man will im konkreten Fall helfen, hat aber auch Angst, Fehler zu machen. Zu helfen war teilweise schwieriger als wir dachten, die Behördengänge gestalteten sich kompliziert.“ So seien in den ersten Wochen viele Geflüchtete in privaten Unterkünften untergekommen und damit „aus dem System gefallen“, berichtet der Krefelder. Nach der sogenannten Erstregistrierung müsse man dann an dem Ort bleiben und könne nicht „einfach so“ umziehen.
Bevor sie uns in das Chaos der ersten Kriegstage mitnimmt, gibt uns Olga eine ruhige Einführung zu ihrer Person, und es fühlt sich ein bisschen an wie im Vorstellungsgespräch: „Ich heiße Olga Ianushevych. Ich komme aus Kyjiw und habe Jura studiert in Odesa sowie Frankfurt an der Oder. Ich bin verheiratet, habe drei Kinder – 8, 11 und 14 Jahre alt – und ich bin 39 Jahre alt.“ Ihr Alter rückt sie zwar erst auf Nachfrage heraus, aber das passiert oft in Interviews mit weiblichen Gesprächspartnern. Dann legt sie mit ihrer Fluchtgeschichte los, und die Sätze purzeln so schnell durcheinander wie die Lage vor Ort gewesen sein muss. „Taxis und Autos waren kaum zu sehen, Brücken wurden gesperrt, U-Bahnen fuhren unregelmäßig, und wir wussten nicht, wann und wohin die Züge fahren. Teilweise herrschte eine beunruhigende Totenstille. Dann hörten wir weinende Kinder“, schildert sie den Kriegsausbruch in der ukrainischen Metropole mit drei Millionen Einwohnern. Sie reist mit ihren drei Kindern zu Verwandten nach Lwiw an der polnischen Grenze, das Gepäck besteht nur aus kleinen Rucksäcken, die mit warmer Kleidung, Wasser, Snacks, Arzneimitteln sowie Handy, Ladekabel und etwas Spielzeug gefüllt werden. „Jeder sollte mobil bleiben“, erklärt Olga. „Meine Tochter packte jedoch ihren Schulrucksack nur mit Bärchen voll, um sie auch in Sicherheit zu bringen. Die Kleidung musste ich übernehmen, sodass ich selbst nur Platz für wichtige Unterlagen und den Laptop hatte.“ Ihre Augen leuchten kurz auf, als sie die persönlichen Sachen der Kinder erwähnt. Tobias wirft den XXL-Monitor an der Wand des Konferenzraums an, um bei Google eine Karte der Ukraine aufzurufen. Über 500 Kilometer sind es Richtung Westen bis Lwiw, doch dort kann und will Olga nicht bleiben: „Es gab Raketenangriffe wegen der Militärschule. Ich teilte meinem Chef am Telefon mit, dass wir das Land verlassen werden.“ Auch ihre Schwägerin, die Schwiegermutter und zwei weitere Kinder wollen nur noch weg. Aber wie und wohin?
Tobias Polka erinnert sich, dass Olgas Anruf ihn an einem Freitagabend erreichte, denn er besuchte gerade ein Eishockeymatch der Düsseldorfer EG. „Mich hat am meisten angefasst, dass Olga nur aufgrund der Empfehlung ihres Vorgesetzten am Telefon entscheiden musste, ob sie mir vertraut und sich auf den Weg nach Deutschland macht.“ Er ist sichtlich gerührt, seine Stimme kratzt ein wenig. Am Samstag heißt es: „Wir packen ein und fahren los“ – jetzt muss eine Unterkunft für acht Personen her. Über das Netzwerk des Marketing Club Krefeld e.V. stößt Tobias „überraschend schnell“ auf eine freistehende Etage in einem ehemaligen Hotel in Essen. „Die Wohnung ist komplett möbliert, es gibt eine Gemeinschaftsküche, und der Vermieter hat mir mietfrei die Schlüssel überlassen. Das lief alles per Handschlag!“, freut er sich noch heute. Montags fährt der Wirtschaftsprüfer zu IKEA, um fehlende Matratzen und Bettwäsche zu kaufen, in der Firma wird für die weitere Grundausstattung gesammelt: „Geschirr, Tassen, Utensilien für das Bad, Spielzeug oder eine Spülbürste – am Ende war es schon fast zu viel Unterstützung.“ Olga, die bisher sehr gefasst und konzentriert mit uns gesprochen hat, taut angesichts der liebevollen Details etwas auf und lächelt verhalten. „Alles war vorbereitet, die Betten bezogen, im Schrank war Essen und Schokolade.“ Schon am Dienstag kann sie mit ihrer kleinen Truppe einziehen und zur Ruhe kommen, denn alle fanden sich nach der anstrengenden Fahrt in einer Parallelwelt wieder. „Geschäfte sind geöffnet, der Nahverkehr funktioniert, alle lachen – wir brauchten Zeit, um das anzunehmen.“ Es herrscht bedrücktes Schweigen im Raum.
Denn während wir in Deutschland über 19 Grad in Büros diskutieren, Holzvorräte hamstern oder überlegen, wie oft wir warm duschen sollen, stehen die Menschen in der Ukraine vor weitaus größeren Herausforderungen. Der Schulunterricht wurde zügig auf Onlineformate umgestellt, doch Kälte und Schäden an der Infrastruktur lassen harte Zeiten erwarten. Gerade erst wurden 4.000 Wärmestuben mit Internet, Strom und Wasser angekündigt, um die Bevölkerung durch den Winter zu bringen. Und was macht Olga, die mittlerweile eine neue Wohnung in Essen gefunden hat und passende Schulen für ihre Kinder? Sie gibt nicht auf, sondern engagiert sich mit anderen für die Zukunft ihrer Heimat: Demonstrationen, Ausstellungen und politische Diskussionen, aber auch Spendenaktionen, um humanitäre oder militärische Ziele zu erreichen, zählt sie in einer E-Mail auf. Nachts um halb drei. „Ich fühle mich verpflichtet, etwas zu tun“, betont die Anwältin. Sie nennt praktische Gegenstände wie Powerbanks, Schlafsäcke, Winterstiefel, Petroleumkocher, Feuerlöscher oder Stromerzeuger, mit denen wir ihre Arbeit jetzt relativ leicht unterstützen könnten.
In seiner Ansprache zum Jahreswechsel 2021/22 nutzte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj starke Adjektive, um die Bürger der Ukraine zu beschreiben: „Sie sind mutig und verantwortungsbewusst. Außergewöhnlich und nicht gleichgültig. Freiheitsliebend und sehr fleißig.“ Olga ist eine von über 40 Millionen Menschen, die gemeinsam ein großes „Wir“ bilden und eine Freiheit verteidigen, an die wir uns in Deutschland so gewöhnt haben. Wenn die Welt aus den Fugen gerät, dann können Dinge, die eigentlich unbedeutend erscheinen, für die Betroffenen plötzlich große Bedeutung annehmen. Wie die ukrainische Variante der Rote-Bete-Suppe Borschtsch, die im Juli von der UN-Kulturorganisation Unesco auf die Liste des weltweit zu schützenden Kulturerbes gesetzt wurde. Schon mit Kleinigkeiten können wir Großes bewirken.
Kontaktadressen zur Unterstützung der Ukraine DLF Rechtsanwälte: dlf.ua/de
www.linkedin.com/in/christine-khariv-qris
Initiative FND Ukraine: facebook.com/fndukraine
Petition We Are Europe: we-are-europe.org
[…] ganz ähnlich geht wie ihr einst. Ihre Kraft und Ihre Selbstlosigkeit sollten uns alle inspirieren. Olga Ianushevych hat einen gänzlich anderen Hintergrund und doch muss sie seit dem Frühjahr eine Not erfahren, die […]