Die meisten Autoren träumen insgeheim davon: von der großen Erzählung, dieser einen Geschichte, in der alles kulminiert, was sie je gedacht und gefühlt haben, in der Inhalt und Form eine untrennbare Verbindung eingehen – und die Leser nach Möglichkeit bis in ferne Zukunft mit ihrem Namen verbinden werden. Nur den wenigsten gelingt es aber, diese Geschichte zu schreiben. Sie bleibt ein Ideal, dem sie sich beharrlich und unaufhörlich nähern, das sie aber doch nie erreichen. Tragisch? Nicht unbedingt. In dem Wissen, eine Aufgabe und ein Ziel zu haben, liegt ja auch ein großes Glück. Ann-Katrin Roscheck ist diesem Glück immer ganz dicht auf den Fersen. Seit Jahren spürt sie in Krefeld Geschichten nach – und den Menschen, die bereit sind, sie ihr zu erzählen – und hat dabei eine ganz eigene, sehr intime Stadtchronik erschaffen. Jetzt hat sie die Perspektive gewechselt.
Ich war gerade ganz neu zur KR-ONE gestoßen, als ich Ann-Katrin Roscheck bei einem Redaktionsmeeting zum ersten Mal traf. Ich hielt mich zurück, war ja schließlich noch neu, und hörte mir stattdessen an, welche Ideen die erfahreneren Kollegen so mitgebracht hatten. Die dunkelblonde Redakteurin neben mir hinterließ einen besonderen Eindruck: Sie hatte gleich mehrere Geschichten am Haken, berichtete von spannenden Menschen, die sie irgendwie aufgespürt hatte und verstand es, mit der Art, wie sie von ihnen erzählte, zu fesseln. Ich hatte sofort Respekt vor ihr: Die Neugierde, Offenheit und Begeisterung, mit der sie der Welt begegnete, war greifbar. Doch das war nicht immer so gewesen: „In der Schule passte ich nicht so richtig rein. Ich war zwar gut in Naturwissenschaften, vor allem aber ein kreativer Typ, verträumt und ein bisschen langsam“, taucht Ann-Katrin tief ein in ihre Vergangenheit. Wir sitzen in der Küche ihrer Wohnung in der Krefelder Innenstadt und lassen uns den Cappuccino schmecken, den sie uns zubereitet hat. Draußen ist es grau, aber bei Ann-Katrin herrscht eine warme, herzliche Atmosphäre. Der Anlass, aus dem wir uns treffen, ist allerdings auch ein bisschen traurig. „Das letzte Jahr war wirklich nicht einfach“, erzählt sie. „Als selbstständige Autorin war ich so erfolgreich wie nie, aber ich fühlte mich allein. Es hat mir gefehlt, in einem Team zu arbeiten. Corona tat sein Übriges. Die Anfrage der Stadt Krefeld, ob ich als Pressesprecherin und Online-Redakteurin für sie arbeiten möchte, kam daher genau zum richtigen Zeitpunkt.“ Nachdem Ann-Katrin also jahrelang Geschichten aus Krefeld erzählt hat, wird sie nun Geschichten für Krefeld erzählen. „Ich bin zuständig für den Geschäftsbereich 5, zu dem unter anderem der Bereich Stadt- und Verkehrsplanung und das Zentrale Gebäudemanagement gehören“, gibt sie einen Einblick in ihre neue Tätigkeit. „Zwar wird es dabei nicht mehr um den Menschen von nebenan gehen, aber ich finde diese neue Aufgabe trotzdem sehr spannend. Städtische Themen in einer sich verändernden Presselandschaft zu platzieren, wird eine große neue Herausforderung sein. Und es ist toll, dass ich dabei so viele Menschen wiedertreffe, die mich auf meinem Weg geprägt haben.“
Die Menschen und Orte, die Ann-Katrin in ihrem Leben getroffen und aufgesucht hat, sind nicht nur als Fotos in ihrer Wohnung immer präsent.
Dieser Weg ist lang und voller unerwarteter Abzweigungen und enger Haarnadelkurven. Ann-Katrin schrieb sich nach ihrem Schulabschluss 2010 für das Studium der Germanistik und Philosophie auf der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf ein und absolvierte ein Praktikum bei Welle Niederrhein, dem sich 2011 die freie Mitarbeit beim Lokalsender anschloss. „Mir wurde dort schnell klar, dass ich nichts anderes wollte, als Geschichten zu erzählen. Tagsüber arbeitete ich also als rasende Reporterin fürs Radio, was sehr fordernd und anstrengend war, und abends ging ich weiter studieren“, berichtet sie von ihren ersten beruflichen Schritten. „Bei der WZ lernte ich anschließend, wie man Artikel aufbaut, strukturiert, den Leser mitnimmt. Und dann klopfte eines Tages das Bethanien Kinder- und Jugenddorf in Schwalmtal an, das eine Pressesprecherin suchte. Ich war gerade erst 23 und für mich war das vor allem eine Challenge: Ich wollte mir als junge Frau Respekt und Anerkennung erarbeiten.“ Das gelang ihr: In den folgenden Jahren machte sie ihre Stelle komplett zu ihrer eigenen, krempelte die Website um und schuf neue Strukturen. „Das Kinderdorf war mein Baby, in das mein ganzes Herzblut floss. Doch als ich geschafft hatte, was ich mir vorgenommen hatte, fragte ich mich: Und was kommt jetzt?“
Ann-Katrin erzählt mir ihre Geschichte nicht einfach, sie durchlebt sie erneut. Mehr als einmal sehe ich ihr an, wie die Erinnerung an einen der zahlreichen Wendepunkte ihres Lebens oder einen Menschen, der sie beeindruckt hat, alte Gefühle weckt. Sie ist kein Mensch, der die Dinge abheftet, abschließt und vergisst. Was sie einmal gefühlt hat, das bleibt für immer bei ihr. Ihre Wohnung ist voller Erinnerungsstücke an die Reisen, die sie unternommen hat und die ein wichtiges Kapitel in ihrem Leben darstellen. Schwarzweißfotos zeigen einen Leuchtturm in Neuseeland, einen Wasserbüffel in Kambodscha oder einen alten Mann in Marokko. „Alles fing damit an, dass ich auf Malta in Urlaub war“, beginnt Ann-Katrin. „Ich fragte mich dort, ob ich allein auf Weltreise gehen könnte. Während ich grübelte, las ich auf dem Smartphone, dass auf dem Ostwall, da wo ich lebte, ein Haus brannte. Ich dachte mir zuerst nichts dabei, doch dann stellte ich fest, dass es sich tatsächlich um mein Haus handelte. Die Wohnung unter meiner war in Flammen aufgegangen und das Feuer hatte auf meine übergegriffen. Ich verlor bei diesem Brand alles, was ich besaß. Aber rückblickend war diese Katastrophe für mein Leben ein absoluter Glücksfall. Ich hatte nichts mehr, was mich in Krefeld hielt – also ging ich auf meine Weltreise.“
Zwei Jahre lang Jahre jettet sie, immer wieder unterbrochen von kurzen Deutschlandaufenthalten, um die Welt, nach Australien, Neuseeland und auf die Philippinen, vor allem Südostasien hat es ihr angetan. „Ich habe mein Herz an Vietnam und Kambodscha verloren“, sagt sie und wieder steigt dieses flimmernde Funkeln in ihre braunen Augen. „Ich habe mich dort in wohltätigen Projekten engagiert und Kindern das Schwimmen beigebracht. Alles, was ich hatte, trug ich in meinem Rucksack auf dem Rücken. Ich schlief in Bambushütten, und wenn es regnete, standen die Straßen unter Wasser und der Strom war weg. Aber es fehlte trotzdem nichts, kein Mensch wäre dort auf die Idee gekommen, sich zu beschweren. Dieses einfache Leben, fernab von Leistungsdenken und Materialismus, hat mir ein anderes Gefühl für mich selbst gegeben.“ Wer weiß, wo Ann-Katrin heute wäre, hätte das Schicksal Ostern 2019 nicht erneut zugeschlagen? „Ich war auf Sri Lanka, als es dort zu den Bombenanschlägen kam. Ich wusste sofort, dass mein romantisches Selbstfindungsabenteuer damit zu Ende war“, rekapituliert sie. „Also packte ich meine Sachen und flog nach Hause.“ Doch die Offenheit, das Gespür und die Dankbarkeit für die kleinen Dinge bringt sie mit zurück nach Krefeld. Und dort greift sie ihre alte Tätigkeit wieder auf.
„Die schönsten Geschichten habe ich in den vergangenen zwei, drei Jahren geschrieben.“ Eine davon handelte von Josie, dem Kind, das niemals schläft. Mithilfe von Ann-Katrins Artikel wurden über 20.000 Euro an Spenden für das kleine Mädchen und seine Eltern gesammelt.
„Meine schönsten Geschichten habe ich in den letzten zwei, drei Jahren geschrieben“, sagt Ann-Katrin aus voller Überzeugung. „Alles, was ich in meinem Leben gemacht habe, habe ich immer mit dem Herzen getan, aber erst nach meiner Rückkehr wusste ich, meine Gabe wirklich einzusetzen. Dass Menschen mir vertrauen, bereit sind, sich mir zu öffnen und mir tief private Dinge zu erzählen, damit ich sie aufschreibe, betrachte ich als ein Geschenk, für das ich sehr dankbar bin.“ Sie macht eine kurze Pause. „Prominente haben mich nie wirklich interessiert. Ich wollte immer die Geschichte des Menschen von nebenan erzählen. Denn ich glaube, dass jeder eine Geschichte in sich trägt, die es verdient, erzählt und gehört zu werden. Man muss nur den Blick und das Ohr für sie haben. Ich möchte, dass der Krefelder weiß, was für eine großartige Person sein Nachbar ist.“
Ich werde Ann-Katrins Geschichten sehr vermissen. Die Spannung, wenn wieder ein Artikel von ihr im E-Mail-Postfach landete, den ich als erster lesen durfte. Den spürbaren Enthusiasmus für ihr Gegenüber, die sprudelnde Begeisterung, aber auch die Liebe und Zuneigung, die aus jeder Zeile flossen. Und die Arbeit mit ihr am Text, bei der es nicht selten darum ging, diesen reißenden emotionalen Strom zu beruhigen, damit der bekanntlich etwas spröde Niederrheiner von ihm nicht fortgerissen wird. „Ich wollte immer alles“, lächelt sie. Ihre quirlige Feder schweigt jetzt erst einmal. Aber ich bin mir sicher, dass sie irgendwann wieder über das Papier fliegen wird. Wer so für das Schreiben und die Menschen brennt, der macht vielleicht eine Pause, aber er hört nicht auf. Schließlich lockt sie ja immer noch, diese eine große Erzählung. Aber das Ann-Katrin sie so hartnäckig gesucht hat, entbehrt ja auch nicht einer gewissen Ironie. Schließlich hat sie selbst eine solche Geschichte gelebt. Und sie ist noch lang nicht zu Ende.
[…] Ab heute, dem 1. Januar, gehöre ich zum Team der Pressestelle der Stadt Krefeld. Seit zwei Jahren bin ich als Redakteurin zurück in Krefeld. Bild: Luis Nelsen, […]