Fast so groß wie eine Schulklasse war die Gemeinschaft der Kinder auf der kleinen Straße im Kreis Gangelt. Die Jungs und Mädchen spielten nicht nur tagtäglich miteinander, sie waren auch füreinander da, wenn sich einer beim Rollerfahren das Knie aufschlug, beim Fußballspielen den Knöchel verstauchte oder durch eine Unvorsichtigkeit die Nase zu bluten begann. Allen voran setzte sich Judith Ebel ein: Sich um die anderen Kinder zu kümmern, gab ihr schon mit wenigen Jahren auf der Lebensuhr ein ganz besonderes, sehr erfüllendes Gefühl. So wunderte es niemanden in der Nachbarschaft, als Judith im Alter von gerade einmal zehn Jahren verkündete: „Ich werde Kinderkrankenschwester!“ Auch wenn die Eltern kurzerhand engagiert versuchten, noch einmal auf ihren Berufswunsch einzuwirken, verließ die Heranwachsende mit jungen 17 Jahren die kleine Straße im Kreis Gangelt und machte sich auf, um sich in Aachen ihren beruflichen Traum zu erfüllen.
„Als Teenie war das natürlich ein riesengroßer Schritt für mich“, erinnert sich die heute 49-Jährige. „Die rund 35 Kilometer fühlten sich an wie eine Weltreise.“ Die Volljährigkeit noch nicht erreicht, begann Judith ihren Karriereeinstieg fast unfreiwillig mit einem Berufsvorbereitungsjahr in einem Aachener Altenheim. Erhielt sie hier Einblick in einen Bereich der Pflege, den sie eigentlich nie haben wollte, lernte sie gleichzeitig von der strengen Schwesterngemeinschaft, die das Haus leitete. „Ich komme aus einem sehr guten Elternhaus, aber das war schon noch einmal eine andere Liga“, erzählt sie lachend. „Am Ende tat es mir gut – sowohl die Arbeit mit den Senioren als auch die Einblicke in die Ordensgemeinschaft.“
Vielleicht war auch das der Grund dafür, dass Judith direkt im Anschluss einen der beliebten Ausbildungsplätze zur Kinderkrankenschwester im Universitätsklinikum Aachen ergatterte. Denn sie ist niemand, der den einfachen, befestigten Weg wählt. Hatten andere Azubis in kleineren Häusern nur Zugriff auf eine gängige Kinderkrankenstation, konnte sie hier bereits in jungen Jahren tief in Pflege, Medizin, Behandlung und Diagnostik einsteigen. Schon damals faszinierte die gerade Volljährige die Arbeit. Helfen zu können, dort wo andere hilflos sind, begleiten zu können, auch wenn die Diagnose hoffnungslos erscheint, und die Zeit der Krankheit, die für alle Menschen strukturverändernd ist, so angenehm und menschlich wie möglich zu gestalten, entwickelte sich zu ihrer Passion. „Ich würde immer wieder zurück ans Bett gehen“, erklärt Judith Ebel. „Menschen zu unterstützen, das ist für uns Pflegefachpersonen immer die ausschlaggebende Motivation dafür, diesen Beruf zu ergreifen.“
Um noch tiefer in die Materie einzusteigen, wechselte die Kinderkrankenschwester einige Jahre nach der Ausbildung in das Deutsche Herzzentrum Berlin. Auf der Intensivstation kam sie hier mit nur 23 Jahren mit den schwersten Schicksalen in Berührung. „Es fasziniert mich, dass Kinder ganz anders mit Krankheit umgehen als Erwachsene“, erklärt sie. „Heute liegt ein Mädchen an der Herz-Lungen-Maschine, morgen ist es auf der Intensivstation und übermorgen steht es winkend im Türrahmen. Diese Erlebnisse gaben mir Kraft.“ Aber auch schwierige Krankheitsgeschichten prägten die junge Frau. Rund 40 bis 45 Kinder verloren zu dieser Zeit auf ihrer Station jährlich ihr Leben. Immer zwei Familien begleitete sie nicht nur während der Zeit im Krankenhaus, sondern übernahm auch ihre Betreuung über den Stationsalltag hinaus. Eines Tages wurde ein einjähriges Mädchen eingeliefert und, obwohl die Ärzte ihr den sicheren Tod voraussagten, kämpfte sie sich temporär zurück ins Leben. „Es war an einem Osterwochenende und wie ein kleines Wunder“, schildert Ebel bewegt. „Auf einmal konnten wir die Infusionen immer weiter reduzieren, weil sie leben wollte. Auch wenn sie dadurch nur wenige Monate gewann, war es doch ein Geschenk für alle.“ Die Kinderkrankenschwester begleitete die Eltern in den letzten Monaten, fuhr als Pflegekraft gemeinsam mit ihnen in den Urlaub und war auch für sie da, als die Tochter am Ende die Augen schloss. „Diese Erlebnisse haben mich auch selbst als Mutter geprägt“, weiß sie heute. „Es ist ein Geschenk, Menschen in solchen Situationen begleiten zu dürfen.“
Genau aus diesem Grund strebte die junge Frau irgendwann nach mehr. Sie wollte die Passion, die sie selbst für den Pflegeberuf empfand, an andere weitergeben und sie mit ihrem eigenen Optimismus anstecken. Die Pflege sei kein Beruf, der – wie die Vorurteile es immer wieder ausmalen – sich ausschließlich durch schlechte Arbeitszeiten und unangemessene Bezahlung auszeichne, sondern eine Tätigkeit, die das eigene Leben bereichere. Judith Ebel entschied sich daher, an der Humboldt Universität Pflegewissenschaft und Erwachsenenpädagogik zu studieren. Inzwischen Mutter einer Tochter, kehrte sie nach dem Studium gemeinsam mit ihrem Mann zurück an den Niederrhein. In Meerbusch machte sie sich als pflegewissenschaftliche Beraterin im Gesundheitswesen und als Dozentin selbstständig und war aufgrund ihres besonderen Werdegangs und ihrer umfassenden Expertise schnell erfolgreich.
„Aber ich wäre nicht ich selbst, wenn ich nicht auch hier immer wieder Optimierungsbedarf finden würde“, erklärt die 49-Jährige lachend. „Stehenzubleiben ist nichts für mich. Ich glaube, dass der Pflegeberuf ein unheimliches Entwicklungspotenzial hat, das viel größer ist als das eines Wirtschaftsunternehmens.“ Schon vor einigen Jahren nahm Ebel im Rahmen ihrer Beratungstätigkeit und auch ihres Bildungsauftrags die Digitalisierung in der Pflege in den Blick. Für die Fachfrau ist die Digitalisierung eine wichtige Möglichkeit, in Zeiten des Fachkräftemangels junge Menschen für den Pflegeberuf zu begeistern. „Digitalisierung muss als Chance und nicht als Verpflichtung wahrgenommen werden“, erklärt sie.
Vor fünf Jahren schuf sie mit der Entwicklung einer Quiz-App für Pflegende selbst einen Meilenstein. Steckte Gamification als Lehrmittel in der deutschen Pflege damals noch in den Kinderschuhen, entwickelte sie gemeinsam mit einem Programmierteam eine Anwendung, die Fortbildung für Pflegende dauerhaft zugänglich machen sollte. „Ich habe in meinen Seminaren gemerkt, dass die Pflegekräfte total motiviert waren, das Gelernte in den Alltag zu übertragen, aber die Realität häufig anders aussah“, schildert sie. „Das neu Erlernte wurde in der Routine schnell vergessen. Das wollte ich ändern.“
Die Quiz-App SuperNurse® ist inzwischen in Deutschland etabliert. Über sie können Pflegekräfte Zertifikate erspielen, die als offizielle Fortbildungsnachweise gelten. Dabei entwickelt Ebel vom Niederrhein aus mit Experten in ganz Deutschland immer weitere Themenfelder und ergänzt die Fragen in der App durch aktuelle Inhalte und Standards. Schnittstellen mit Pflegedienst- oder Einrichtungsleitungen übertragen die Ergebnisse aus der App in die Praxis. „Die Einrichtungen entscheiden sich bei uns für Teamzugänge und erhalten dadurch automatisch die Auswertungen des Quiz“, erklärt die Meerbuscherin. „Dadurch wissen die Leitungskräfte, an welchen Themenfeldern noch gemeinsam gearbeitet werden muss. Sie sorgen für einen Theorie-Praxis-Transfer, zum Beispiel durch entsprechende Fallbesprechungen und fachliche Vertiefung.“
Für Judith Ebel ist dieser Verknüpfungsprozess ein gutes Beispiel dafür, wie Digitalisierung zukünftig den Pflegeberuf entlasten und ihm zu einem besseren Image verhelfen könnte. Dafür setzt sie sich auch politisch und überregional als Gründerin und Vorständin des Vereins „Care for Innovation – Innovation pflegen e. V.“ ein. Gemeinsam mit gleichgesinnten Innovatoren aus Deutschland und dem näheren Ausland sorgt sie dafür, dass Digitalisierung in der Pflege ein anderes Standing und eine bessere Sichtbarkeit bekommt. „Es gibt zum Beispiel ein Pilotprojekt, bei dem Sensoren in Inkontinenzvorlagen verbaut sind, die nachts anzeigen, ob ein Wechsel notwendig ist“, erklärt Ebel. „Dieser Sensor hilft zum einen, das Pflegepersonal in der Nachtschicht zu entlasten, zum anderen das Durchschlafen des Betroffenen zu sichern, weil er nicht unnötig durch das Pflegepersonal geweckt wird. Das ist eine Win-Win-Situation für alle.“ Wenn Judith Ebel über Weiterentwicklung und Digitalisierung spricht, sind es sowohl ihre Erfahrungen als Kinderkrankenschwester auf der Intensivstation, die ihre Worte so glaubwürdig werden lassen, als auch der immer nach Weiterentwicklung strebende Geist, der aus ihr spricht. Und am Ende, so betont die dreifache Mutter, ginge es doch immer um die kleine Straße im Kreis Gangelt. „Jeder kann ein Pflaster kleben“, schließt sie. „Aber letztlich zählt nicht das Pflaster, sondern mit welcher Empathie, Fürsorge und Fachlichkeit es geklebt wurde.“