„Hallo, ist da Herr KR-ONE … äh, ich meine … Herr Kordes?“ Üblicherweise begannen unsere Telefonate mit diesem Satz. Irgendwann in den 2010er-Jahren rief er zum ersten Mal an. Dann immer wieder, wenn er die neue Ausgabe in seinen Händen hielt. Uwe Döhnert war laut, dreist und provokativ, aber auch sensibel und blitzgescheit. Sein Lob war fundiert, seine Kritik stets mit guten Argumenten unterfüttert. Er riet uns, das Magazin mit einem Preis zu versehen, „denn was nix kostet, ist auch nix“. Er wusste, welche Typografie wir verwendeten und empfahl die Bold-Variante zur besseren Lesbarkeit. Und er war immer wieder Ideengeber für spannende Geschichten.
Was ich am Anfang als lästig empfand, wurde über die Zeit ein auch von mir gepflegtes Ritual. Einmal in der Woche sprachen wir miteinander. Meistens ging es dabei um das Redaktionswesen oder Krefeld, selten um ihn. Döhnert lobte immer wieder meine Texte, meinen „herausstechenden Stil“, was mir schmeichelte. Oft hatte er sich Sätze markiert, die er dann mit seiner gutturalen Stimme vorlas, um sie anschließend zu analysieren. Wir bauten ein Vertrauensverhältnis zueinander auf, das aber auf unsere Telefonate beschränkt blieb. Lief ich ihm über den Weg, erkannte er mich entweder nicht oder ich wurde Opfer einer seiner berühmten Verbal-Attacken. Einmal schrie er mir hinterher, ich sei ein pomadiger Lackaffe. Ein anderes Mal sollte ich mit meiner „arroganten Fresse“ gefälligst woanders hinschauen. Wenn ich ihn bei unserem nächsten Telefonat darauf ansprach, entschuldigte er sich entweder kleinlaut oder er konnte sich schlicht nicht mehr daran erinnern. Döhnerts Hang zur Flasche bestimmte sein Leben und trübte seinen brillanten Geist mit jedem Schluck. Wenn wir morgens miteinander sprachen, hatte ich einen Professor am Apparat, abends einen verwirrten Pöbelanten, der ein Ventil für seinen Frust suchte. Döhnert hasste die Provinz, wie er Krefeld nur zu gern nannte, alle „Kleingeister“, die seine besondere Gabe nicht erkannten. Er fühlte sich von Gott und der Welt verraten, machte die Gesellschaft dafür verantwortlich, dass er keine Chance bekam. Als er mich um eine Anstellung bat und ich ihm entgegnete, dass er dafür erst einmal das Saufen aufgeben müsse, wurde er böse: „Ich kann mit drei Promille auf dem Tacho mehr als 90 Prozent der Gesellschaft!“
Weil er von mir keinen Job bekam, ernannte er sich kurzerhand selbst zum Mitarbeiter. Mit dem Magazin unter dem Arm sprach er potenzielle Werbekunden an und berichtete anschließend per Telefon über den Stand der Akquise. Als ich ihm sagte, dass er das nicht einfach machen könne, wurde er wütend. Oft schrie er erst und weinte anschließend, dann legte er auf, um nur wenige Minuten später wieder anzurufen. Dieses Muster entwickelte sich vor allem bei Kritik oder bei zu tiefgehenden Fragen. Warum er vom Akademiker zum Landstreicher wurde, hat er mir nie beantwortet. Aber er nahm mich immer mal wieder mit auf einen Streifzug durch seine Vergangenheit. Er erzählte von Treffen mit Michail Gorbatschow, seiner Zeit beim Team der renommierten Werbeagentur BBDO und der Tätigkeit als politischer Berater. Was davon stimmte, weiß ich nicht. Allzu kritische Nachfragen habe ich mir verkniffen. Ich hatte mir immer vorgenommen, die Fragen, die mir seit jeher auf der Seele brannten, von Angesicht zu Angesicht an ihn zu richten.
Über die Jahre veränderte sich unsere Beziehung. Mal telefonierten wir oft, mal selten. Was als fachlicher Austausch begann, verrutschte irgendwann. Döhnert rief zu unmöglichen Zeiten an und machte mir zunehmend Vorwürfe. Er wollte, dass ich die Verantwortung für sein Leben übernehme. „Geben Sie mir jetzt endlich eine verdammte Chance“, hat er immer wieder gesagt. Seine Übergriffigkeit führte dazu, dass ich oft nicht mehr ranging, wenn ich seinen Namen auf dem Display las. Das Schlitzohr ging dann hin und wieder an einen Münzautomaten und versuchte es darüber. Eines Tages registrierte ich, dass er mir auf die Mailbox gesprochen hatte. Diese Nachricht veränderte alles. Verpackt in viele Vorwürfe kündigte er seinen Suizid an. Mit tränenerstickter Stimme sagte er, er würde jetzt auf die Bahngleise gehen und sein Leben beenden.
Ich rief die Polizei, die sich nur widerwillig der Sache annahm. Letztlich schickten Sie doch zwei Polizistinnen zu ihm. Er hatte sich nicht das Leben genommen. Jetzt war er wütend, richtig wütend. In der nächsten Nachricht auf meiner Mailbox schrie er und fragte, welches Recht ich besäße, mich in sein Leben einzumischen. Er war stinkbesoffen, sonst hätte er gemerkt, welchen Unsinn er da redete, schließlich hatte er mich durch seine Nachricht selbst dazu gezwungen, mich in sein Leben einzumischen. Danach telefonierten wir noch einmal: kurz, distanziert. Sendepause.
Nach fast zwei Jahren ohne jeden Kontakt meldete sich Döhnert vor drei Monaten wieder bei mir. Es war so, als würden sich die Ereignisse wiederholen. Er beglückwünschte mich zu unserem CREVELT Magazin, lobte meine Schreibe und die hohe journalistische Qualität. Ich entgegnete ihm, dass ich mich freue, ihn bei offenbar guter Gesundheit zu erleben. Das Gespräch war kurz, ich hatte viel zu tun. Ich ließ mir von ihm seine Nummer geben, um ihn zurückrufen zu können. Schon bei unserem ersten Telefonat hatte ich den Entschluss gefasst, einmal seine vollständige Geschichte zu erzählen. Mitentscheidungsträger des Verlags, die er zuvor verprellt hatte, oder unsere volatile Beziehung miteinander machten es immer wieder unmöglich. Allen Widerständen zum Trotz sollte seine Geschichte das Highlight der Sommerausgabe werden, sein Konterfei das Cover zieren. Ich wollte es auf Biegen und Brechen durchdrücken.
Am Dienstag-Vormittag schrieb mir eine Kollegin, dass das Gerücht herumginge, Uwe Döhnert sei gestorben. Ich griff sofort zu meinem Handy und rief ihn an: Freizeichen, doch niemand hob ab. Dass sein Handy nicht aus war, spendete mir zunächst Zuversicht, die sich allerdings nur wenig später zerschlug. Uwe Döhnert ist tatsächlich gestorben. Er ist gegangen und hat seine Geschichte mit ins Grab genommen. Die beispiellose Geschichte eines Mannes mit der dramatischen Fallhöhe eines klassischen Dramas. Eines Mannes, der auf so faszinierende Weise diametrale Pole in sich verband, der so zerrissen war. Der Kontakt zu Uwe Döhnert hat mich vieles gelehrt. Er hat mir gezeigt, dass im Leben nichts sicher ist und wie groß der Facettenreichtum einer Person sein kann. Schon immer haben mich Menschen wie er gereizt. Menschen, die Brüche in ihrem Lebenslauf haben, die weit abseits gesellschaftlicher Konventionen leben und normative Wertvorstellungen ablehnen. Uwe Döhnerts Tod hat mich getroffen. Er hat mich so nah an seine Seele gelassen wie sonst nicht viele. Trotzdem bleiben die für mich wichtigsten Fragen weiter unbeantwortet. Werden es bleiben. Ich gräme mich, dieses eine Gespräch vor mir hergeschoben zu haben. Das ist die letzte Lehre, die er mir mitgegeben hat: Wenn dir etwas wichtig ist, lasse nicht zu viel Zeit verstreichen, denn schon morgen kann alles vorbei sein …
Machen Sie es gut, Herr Döhnert!