„Mein Selbstwertgefühl war am Boden“, sagt Anja Hüben fast andächtig. Ihre großen braunen Augen, die sie in dünner Linienführung mit einem schwarzen Kajalstift umrandet hat, glänzen. „Es gibt ein Vorher und ein Nachher. Dazwischen konnte ich mich einfach nicht annehmen. Ich habe mich nicht mehr gespürt.“ Es sind Worte, die sich nur schwer mit der Person verbinden lassen, die dort aufrecht und mit wachem Blick auf der Bank in der offenen Küche sitzt und eine Kaffeetasse mit beiden Händen umfasst. Die 55-Jährige umgibt eine starke Aura: Lacht sie, wandert ihr Lächeln vom Mund zu den Augen und erfasst schließlich ihr Gegenüber. Ihre Lebensfreude und ihre Zugewandtheit besitzen eine Tiefe, die nur schwer zu greifen ist. Kaum vorstellbar also, dass sich die Textildesignerin noch vor wenigen Jahren am persönlichen Tiefpunkt befand.
Hüben wuchs in Schwalmtal-Waldniel auf und wählte als junge Frau für ihr Studium an der Hochschule Niederrhein die Seidenstadt zur neuen Heimat. Als Textildesign-Studentin entdeckte sie die Vorzüge der Hochschulstadt: Sie wanderte mit Farben und Entwürfen für Stoffe von Atelier zu Atelier, probierte sich aus und entschied sich fast zufällig, als Selbstständige in der Stadt zu wirken. „Ich habe immer schon gern mit meinen Händen gearbeitet und mein Atelier Eigen-art entwickelte sich organisch“, erinnert sie sich. „Meine Arbeiten waren gefragt, ich gestaltete Bettwäschen, Dekostoffe, Tapeten oder Gardinen für große Labels.“ Mit der Geburt ihres Sohnes Aaron veränderte sich ihr Leben, denn Hüben entschied sich, sesshaft zu werden. Mit inzwischen vier Mitarbeiterinnen, die zwar freischaffend, aber dauerhaft für sie arbeiteten, tauschte sie ihre Hände an den Farbtöpfen gegen das Lenkrad ein: Als Vertrieblerin bewegte sie sich über die Grenzen von Deutschland hinaus, um ihre Dessins bekannt zu machen. Gemeinsam mit ihrem damaligen Lebensgefährten fand sie auch privat ihr Glück. Die Familie hatte ein wunderschönes, einzigartiges Haus in Gellep-Stratum an der Grenze zu Krefeld gekauft, in dem die Kreative endlich Atelier und Wohnraum vereinen konnte.
War Hüben beim Hauskauf 2009 noch glückselig gewesen, folgte nur wenige Jahre später die Ernüchterung. „Die Beziehung lief nicht mehr gut und wir trennten uns“, erinnert sie sich. „Auch beruflich war ich nicht mehr glücklich: Mir fehlte die Kreativität, gleichzeitig hatte ich aber Verantwortung gegenüber meinen Mitarbeitern. Ich war im Hamsterrad gefangen und spürte das auf einmal am ganzen Körper.“ Hüben begann, Energie zu verlieren, lag oft tagelang auf der Couch und badete in Tränen. Dinge, die ihr zuvor Freude bereitet hatten, berührten sie auf einmal nicht mehr. Das Aufstehen fiel ihr schwer und ihr Körper fühlte sich zunehmend fremd an. „An einem Tag im Oktober 2015 wachte ich auf und dachte im Halbschlaf: ,Warum drückt denn der Bügel-BH so?‘“, erinnert sie sich und macht eine bedeutungsschwangere Pause. „Im nächsten Moment fiel mir mit Schrecken auf, dass ich gar keinen BH trug.“ Ihre Finger erfühlten eine spitze Verhärtung in der Brust. Hüben lief es eiskalt den Rücken herunter. Es war nun müßig zu überlegen, was zuerst da gewesen war – die Depression oder der Knoten.
Nur wenige Tage später sitzt Hüben nervös im Wartezimmer der Frauenklinik im Krefelder Helios Klinikum. Das Ergebnis der Biopsie liegt vor. „Ich werde diesen Moment nie vergessen“, erzählt sie. „Es kamen fast durchgehend Frauen aus dem Behandlungszimmer heraus. Einige trugen dicke Mappen mit sich, andere öffneten mit leeren Händen die Tür. Vergeblich versuchte ich herauszufinden, welche Bedeutung diese Mappen hatte.“ Die damals 50-Jährige wird es schon kurze Zeit später wissen, denn als die behandelnde Ärztin sie hereinruft, liegt auch für sie eine Mappe auf dem Schreibtisch bereit. „Leider ist das Ergebnis nicht so toll“, formuliert die Ärztin nur vage mit bedauernder Stimme und lässt das Wort mit den fünf Buchstaben aus. „Habe ich Krebs?“, bringt Hüben gepresst und leise die alles entscheidende Frage über die Lippen. Die Ärztin nickt langsam. Sie reicht Hüben ihre Mappe, die ausführlich beschreibt, wie ihre nächsten Monate aussehen werden: Einsetzen des Ports, Brustoperation, Chemo, Bestrahlung.
Während Hüben den Inhalt der Mappe liest, verliert sie von Blatt zu Blatt ein Stück mehr Kontrolle über ihren Körper. „Vor der Brustoperation war ich mir sicher, dass ich in wenigen Wochen wieder arbeiten kann“, beschreibt sie. „Ich hatte ja gar keine Zeit zu verstehen, was da passiert. Die Information, dass ich Krebs habe, war zwar angekommen, aber sie hatte meinen Verstand nicht erreicht.“ Viele Erinnerungen hat das Gedächtnis heute schützend verdrängt und in Schubladen verschlossen, einige Situationen aber sind auch jetzt noch lebendig. „Die Farbe Orange finde ich inzwischen abscheulich“, sagt die starke Frau lachend. Fast andächtig, wie einen wertvollen Schatz, trägt die Krankenschwester damals auf beiden Händen die Injektion der ersten Chemotherapie zu ihr. Der Beutel ist in einem stechenden Orange gefärbt und beinhaltet das Gift, das Hüben zwar Heilung verspricht, aber ihr auch viele Facetten ihres Körpers nimmt. Jeden Donnerstag, wenn sie von der Behandlung nach Hause kommt, weiß sie, dass sie wie eine Murmel in der Abwärtsspirale den Nebenwirkungen der Chemotherapie ausgesetzt ist. Es gibt keinen Weg aus dieser Spirale heraus, die Schwerkraft zieht die Murmel gnadenlos bis zum niedrigsten Punkt.
„Erst verlor ich die Haare, dann fesselte mich Übelkeit ans Bett, dann war ich hundemüde“, beschreibt sie. „Das Gefühl, keine Kontrolle mehr zu haben, war das Schlimmste. Also entwickelte ich für mich selbst eigene Routinen.“ Hüben zwingt sich, während der Übelkeitsattacken zu lächeln. Absurd klingt die Beschreibung der Szene, wie sie erschöpft und mit kahlem Kopf schwankend auf der Bettkante sitzt und die Mundwinkel nach oben zieht. „Es war wie ein Tanz“, sagt sie heute. „Wenn ein neuer Rhythmus einsetzt, veränderst du deine Bewegungen. Ich versuchte, genau das gleiche mit meinem Krankheitsverlauf zu machen. Und ich gewann so Stück für Stück die Kontrolle zurück.“
Schon früher war der afrikanische Tanz mein Hobby, aber heute ist er so etwas wie mein Kompass
In der Zeit danach wurde Hüben zum Vorbild für andere. In der Che- motherapie setzten die Krankenschwestern die bereits länger therapierten Krebspatientin neben Neuankömmlinge, um ihnen nach der Diagnose neuen Halt zu geben. Bewusst suchten andere Frauen den Kontakt zur Krefelderin, um in ihrer Nähe die eigenen Veränderungen besser zu ertragen. Und in der Anschlussheilbehandlung, einer Art Reha, schaffte die begeisterte Afrikaliebhaberin ein Angebot, das anderen Schwergetroffenen neuen Lebensmut schenken sollte und sie zum ersten Mal auch selbst die eigene Stärke wieder spüren ließ. „Da gab es einen Tanzkurs, der überhaupt nicht zu unserem körperlichen Zustand passte“, erklärt die Textildesignerin. „Die sehr junge Kursleiterin erwartete Fitness und Ausdauer und unsere geschwächten Körper scheiterten. Einige der Frauen verließen den Raum mit Tränen in den Augen. Das wollte ich nicht. Tanzen ist doch etwas Schönes.“ Also bot Hüben selbst einen Tanzkurs an: Zu afrikanischer Trommelmusik bewegten die Männer und Frauen ihre Körper, breiteten langsam die Arme aus, stapften von einem Fuß auf den anderen und sammelten mit jedem gemeinsamen Händeklatschen frischen Lebensmut. „Eine über 70-Jährige, damals noch schwer an Krebs erkrankt, kam am nächsten Tag zu mir, um mir zu sagen, dass sie nun wieder Hoffnung habe“, schildert Hüben. „Das war das größte Kompliment.“
Die Reha ist nun fünf Jahre her. Äußerlich erinnert nur der Porteingang oberhalb der Brust an die schwere Krankheit der 55-Jährigen. Innerlich aber, so beschreibt es die Kreative, sitzt ein völlig anderer Mensch auf der Küchenbank ihres Hauses in Gellep-Stratum. Der Krebs, so ist sie sich heute sicher, war ein Weckruf. Weil sie während der Erkrankung gefürchtet hatte, das Gefühl und die Kontrolle über sich völlig verloren zu haben, richtete Hüben ihr Leben nach dem Krebs noch einmal neu aus – und lernte sich selbst neu kennen. Die eigenen Schwächen zu akzeptieren, die verringerte Leistungsfähigkeit und Energie anzunehmen: Das fällt der starken Frau immer noch schwer, aber anders als unmittelbar vor ihrer Erkrankung ist sie heute von einer tiefen Glückseligkeit erfüllt. „Schon früher war der afrikanische Tanz mein Hobby, aber heute ist er so etwas wie mein Kompass“, erklärt sie lächelnd.
Unmittelbar nach der Reha beginnt sie, gemeinsam mit dem senegalesischen Sänger und Trommler Aidara Seck Tanzveranstaltungen zu organisieren. Heute sind die beiden ein Liebespaar. „Die afrikanische Lebensfreude umfängt den ganzen Körper“, schildert sie. „Ich merke bei jedem, der teilnimmt, Veränderungen.“ Nicht nur Tanz- oder Trommelkurse organisiert das Duo, vor allem die „Haware“ sind ein besonderes Herzensprojekt. „,Haware‘ bedeutet in Aidaras Sprache ,ein schöner Abend‘ und das ist genau das, was wir hier machen“, erklärt sie. Ob Tanz, Musik, Poesie, leckeres Essen oder Akrobatik – jede Haware ist anders und findet entweder bei ihr zu Hause, in anderen Privathaushalten oder als Show in Veran- staltungsräumen statt. Das Textildesign hat Hüben dagegen völlig an den Nagel gehangen. „Mir kommt es nach der Krankheit albern vor, darüber nachzudenken, ob eine Blume nun auf die rechte oder linke Seite eines Stücks Stoff gehört“, beschreibt sie lachend. Stattdessen überlegt sie, eine Tanzschule für afrikanischen Tanz zu übernehmen. „Endlich“, so führt sie aus „habe ich das Gefühl, dass ich die Tiefe besitze, etwas Sinnvolles zu tun. Etwas, das anderen Leuten Kraft und Stärke vermittelt. Am Ende bin ich dem Krebs dafür dankbar.“
Und während Anja Hüben diese Worte über die Lippen bringt, wandert eine weitere Welle positiver Energie durch sie hindurch. Zuerst sind es ihre Hände, die die Tasse ein bisschen fester umschließen, dann ihr Rücken, der sich aufrichtet. Zuletzt erreicht die Welle ihre Augen und wie ein besonders schöner Tanz erfüllt tiefe Zufriedenheit den Raum.