Mount Everest, K2, Aconcagua, Kilimandscharo. Was geht in einem Bergsteiger eigentlich vor? Weiß er schon, während er auf dem Berggipfel steht, welchen er als nächstes erklimmen möchte? Ist jeder seiner Schritte geplant oder folgt er blind seinem Instinkt? Was treibt ihn an – der Erfolg oder die Suche nach der eigenen Bestätigung, überdurchschnittlich gut zu sein? Oder ist die Erklärung viel simpler: Herausforderungen machen einfach Spaß?
Der Krefelder Oliver Brachat ist zwar kein Bergsteiger, aber seine Karriere lässt sich durchaus als Gipfelsturm beschreiben. Er ist zuvorkommend, freundlich und durchweg sympathisch, redet viel, separiert aber genau, wie viel er von seinem Inneren nach außen kehrt. Seine Wanderrouten entstehen in seinem Kopf: Immer wieder überdenkt er Strategien, schaut sich die unterschiedlichen Marschwege vor seinem inneren Auge an und dann, auf einmal, ohne Ankündigung, überrascht er sein Umfeld mit dem Gruß vom Gipfelkreuz. Ob als Koch, als Foodstylist oder als Fotograf – wenn der 53-Jährige eine Vision hat, dann will er sie nicht nur umsetzen, sondern er möchte der Beste sein, ohne dabei aufdringlich und abgehoben zu wirken, eben wie ein Bergsteiger: Mit beiden Beinen auf dem Boden und mit dem Kopf in den Wolken.
Brachats Weg beginnt 1967 in der Nähe vom Bodensee. Der Junge wächst in Traditionen auf. Sonntags, so wünscht es die Familie, steht der Kirchbesuch an. „Die einzige Möglichkeit, nicht mitzumüssen, war, meiner Mutter stattdessen beim Kochen zu helfen“, erinnert er sich und lacht. „Das war besser als die heilige Bank.“ Neben der badischen Küche liebt es seine Mutter, immer wieder neue Rezepte auszuprobieren, die sie überall aufstöbert. Am Herd vermittelt sie Kreativität und Leidenschaft. „Irgendwann sagte meine Mutter: ,Werde doch Koch, geh´ auf´s Schiff, dann kannst du die Welt sehen‘“, erinnert er sich. Und tatsächlich beginnt er mit 16 Jahren die Lehre.
Es ist der erste Schritt in eine Welt, die Brachat jeden Tag mehr fasziniert: In der Küche halten die Kollegen zusammen, sie schmeißen sich Witze zu, nehmen den Chef aufs Korn und genießen gemeinsam, wenn tief in der Nacht endlich der letzte Handgriff gemacht ist und jedes Mitglied der Küchenbrigade für das Wohlbefinden des Gasts an seine Grenzen gegangen ist. „Dieses Gefühl ist wie eine Sucht“, sagt Brachats Frau Birgit, die er mit 21 in der Gastronomie kennenlernt. „Irgendwann verlangt dein Geist nach diesen Endorphinen. Damit aufzuhören, ist schwierig.“ Gemeinsam zieht das Paar durch die Gastronomiehochkultur. Maximal ein Jahr bleiben die Hotelfachfrau und der Koch an einem Ort, arbeiten in den schönsten und teuersten Lokalitäten Deutschlands und erklimmen Schritt für Schritt die Karriereleiter. „Mit Mitte 20 war ich so gut in der Patisserie, dass ich mir meine Jobs aussuchen konnte“, sagt Brachat fast schüchtern. Und doch sind die Stellen sehr schlecht bezahlt. Mit gerade einmal knapp 1.000 Mark geht der Koch – auch aus einer Sterneküche – am Ende des Monats nach Hause. „Wir haben fünf Tage die Woche bis zu 18 Stunden geackert und an unseren freien Tagen noch Nebenjobs gemacht, um über die Runden zu kommen“, erinnert sich die Hotelfachfrau. „Unser Leben bestand aus Arbeit und dennoch waren wir sehr glücklich und hätten es nicht anders haben wollen.“
Über kulinarische Stationen am Bodensee und im Schwarzwald kommt das junge Paar schließlich ins Rheinland. Hier arbeitet Brachat in der „Traube“ in Grevenbroich, die mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet ist. Von dort aus führt seine Route in ein kleines, persönlich geführtes Restaurant nach Neuss, den „Herzog von Burgund“. Auch Birgit beginnt hier zu arbeiten. Im Gastraum ereignet sich eine schicksalhafte Begegnung. Mit einem Stammgast, einer erfolgreichen Inhaberin einer Werbeagentur, entwickelt sich ein Gespräch. „Warum geht ihr eigentlich nicht ins Ausland?“, fragt sie das Paar. Und ein Samen ist gesät, der tiefe Wurzeln schlägt.
Nur wenige Monate später finden sich Birgit und Oliver auf einem Berg in Massachusetts in einem wunderschönen Herrenhaus wieder. In dem englischen Landsitz residieren Schauspieler, Komponisten und Schriftsteller. Sie sind hier, wenn sie sich eine Auszeit gönnen, lernen Texte, schreiben Songs. Es ist der neue Arbeitsplatz der Deutschen. „Auf einmal war da eine Magie, die wir nicht fassen konnten“, schildert Oliver Brachat. „Die Amerikaner sind unheimlich wertschätzend. Sie zeigen das nicht nur mit Geld, sondern auch mit Worten.“ Brachat lässt sich von der Leichtigkeit der Kreativen anstecken. Das Fotografieren wird zu seinem täglichen Begleiter. Wann immer möglich, zieht er mit seiner alten Leica los, um die atemberaubende Landschaft und die freundlichen Menschen im Bild festzuhalten. „Mit der damaligen Kameratechnik und dem Fotografieren auf Film hatte ich nur eine begrenzte Anzahl von Bildern, also schaute ich gut hin“, erinnert sich der gelernte Koch. Und das Ergebnis gibt ihm recht: Die Bilder sind so gut, dass er für erste Ausstellungen in den USA angefragt wird.
Umso tiefer ist der Fall, als nach 18 Monaten das Visum ausläuft. Auf dem Rückflug ereilt die Resignation das inszwischen verheiratete Paar. „Wir wollten nicht gehen, aber wir mussten“, schildert Brachats Frau. „Da hast du das Gefühl, dass du den höchsten Berg erklommen hast, bist überglücklich und dann kommt eine Windböe und alles soll vorbei sein.“
Schwere Jahre beginnen, es fällt der inzwischen dreiköpfigen Familie schwer, wieder eine berufliche Heimat zu finden. „Es war ja ganz anders als in Amerika, wo du in den Gastraum gerufen wurdest, weil dir der Gast zu deinem außergewöhnlichen Schokotörtchen gratulieren wollte“, erzählt Brachat. Er beginnt, nach einer neuen Herausforderung zu suchen. Einige Monate unterstützt er Christian Teubner, den Pionier der Food-Fotografie, als Praktikant. Er drapiert die Kulisse, er richtet mit einem enormen Verständnis für Ästhetik die Speisen an und hilft, die Rezepte in Szene zu setzen. Dass er auch selbst fotografiert, verrät er nicht. Teubner ist begeistert von dem jungen Mann, erkennt seinen Erfahrungsschatz im Bereich Küche und sein außergewöhnlich gutes Auge. Er sagt ihm eine Karriere als Foodstylist voraus, die Bezahlung jedoch reicht kaum für die junge Familie. „Wir sahen unsere Felle davonschwimmen, nur von Luft und Liebe kann man eben nicht leben“, sagt Birgit heute schmunzelnd. Die junge Frau nimmt die Zügel in die Hand. Tagelang telefoniert sie im Glauben an ihren Mann freiberufliche Kreative ab und bittet um einen Job für Oliver. „Und irgendwann fiel ein Foodstylist kurzfristig aus und Oli wurde gebucht“, erinnert sie sich.
Olivers zweite Karriere als Foodstylist beginnt und wieder erklimmt der mittlerweile zweifache Familienvater den Berg mit schnellen Schritten. Steht ein Shooting an, überlegt er manchmal tagelang, wie er auch schwierige Werbeaufträge umsetzen kann. Die Herausforderung: Die Lebensmittel müssen haltbar gemacht werden, damit die Motive noch verändert werden können, wenn die ersten Analogschüsse nach zwei Stunden aus dem Fotolabor kommen und nicht gefallen. „Das ist heute in einer digitalen Welt nicht mehr vorstellbar“, sagt Brachat und lacht. Elf Jahre lang tourt er durch die Szene, ist an unzähligen Werbeaufnahmen, TV-Spots und Kochbüchern beteiligt. Nebenbei verfolgt er weiterhin die Fotografie. Aber – genau wie auch vor Christian Treubner – verschweigt er am Set seine Leidenschaft. „Wenn ich als Foodstylist gesagt hätte, dass ich selbst fotografiere, hätte mich kein Fotograf mehr gebucht“, erklärt er.
Durch einen Zufall fliegt Brachat auf. Für sein Hobby hat er einen kleinen Raum in Düsseldorf gemietet, der in der Nachbarschaft anderer Fotostudios liegt. Eines nachmittags übt er sich am Blitzgerät. Zur selben Zeit findet ein Werbeshooting in einem anderen Fotostudio des gleichen Hinterhofs statt. „Der Kunde fragte, wer da oben werkelte, und mein Nachbar-Fotograf meinte flapsig ,Das ist nur der Brachat, der fotografiert jetzt auch‘“, erinnert er sich. Danach wird der Foodstylist nie wieder gebucht. Seine zweite Bergwanderung endet erneut mit dem Sturz an einem tiefen Abhang.
Aber Brachat bleibt dieses Mal nicht liegen, er nutzt die vermeintliche Katastrophe als Chance und schafft es, sich an der steilen Wand zu sichern. „Ich schrie jetzt raus, dass ich fotografiere – zum ersten Mal in meinem Leben“, sagt er. Und der Schrei schlägt ein wie eine Bombe. Brachat kann sich vor Aufträgen nicht retten.
Heute hat der 53-Jährige Düsseldorf schon einige Jahre lang den Rücken gekehrt und ist auch beruflich in seine selbstgewählte Heimat, nach Krefeld, gezogen. In seinen großen Räumlichkeiten an der Wiedstrasse 21 stapeln sich nicht nur die liebevoll ausgesuchten Requisiten für die Foodfotografie, sondern auch die Bücher, auf denen sein Name steht. Für sieben hat er eine Medaille auf der Buchmesse in Frankfurt erhalten.
Gleichzeitig ist Brachat einer weiteren, alten Liebe gefolgt: der analogen Portraitfotografie. Als einer der wenigen Fotografen in Deutschland praktiziert er die 170 Jahre alte Nassplatten-Fotografie. Bei diesem Verfahren fotografiert Brachat mit einer alten Großformat-Kamera und einem antiken Objektiv. Aluminium- oder Glasplatten werden dafür mit Kollodium begossen und mit Silbersalzen lichtempfindlich gemacht. Durch den Druck auf den Auslöser wird die Belichtungszeit aktiviert. In der Dunkelkammer wird das Ergebnis schon nach wenigen Minuten sichtbar: Die fertigen Platten besitzen dank unglaublicher Tiefe und Schärfe eine ganz besondere Anmutung. „Die Nassplatten-Fotografie gibt mir die Möglichkeit, mich fotografisch auf eine Art auszudrücken, die ich in der digitalen Technik niemals haben kann“, schildert der Fotograf. „Für mich ist es meine Art, einen Gegenpol in einer Welt zu erschaffen, in der wir von digitalen Bildern nur so überschwemmt werden. Meine Bilder vermitteln Langsamkeit und echte Handarbeit, dadurch wirken sie so intensiv.“
Mit zwei dieser analogen Bilder ist Brachat vom „Bund freischaffender Fotodesigner und Filmgestalter e.V.“ mit einem in der Szene umkämpften Preis ausgezeichnet worden. Und auch regional erhält er Anerkennung: Für die Stadt Krefeld hat er 65 Protagonisten für das neue Kochbuch abgelichtet. Darüber hinaus wird er als besonderer Portrait-Fotograf über die Stadtgrenzen hinaus immer bekannter.
Wenn Brachat über seine Wanderroute spricht, wirkt er ausgeglichen und angekommen. Es scheint, das jeder seiner Schritte ihn genau hierher, an die Wiedstraße geführt habe. Zufrieden blickt er ins Tal. Jedenfalls so lange, bis nicht ein neuer, höherer Berg seinen Ehrgeiz weckt.
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