Die bunten Blätter der Bäume tanzen im leichten Wind. Die Äcker sind abgeerntet und hinterlassen goldene Stoppelfelder, die in der Sonne glitzern. Und immer wieder ertönt ein lautes „Plitschplatsch“ an dem sonst ruhigen Nachmittag, während Johannes in seinen festen Schuhen die unbefestigten Wege herunterrennt. Es ist ein Tag im frühen Herbst im Jahr 1948 irgendwo in der Nähe eines kleinen Dorfes im Harz. Der Opa, bei dem Jo im Moment lebt, hat dem Neunjährigen einen Zettel in die Hand gedrückt mit Dingen, die er in der nächsten Kreisstadt einkaufen soll: Packpapier, eine Tapetenleiste und eine Rolle Packkordel. Johannes ist aufgeregt, denn sein Opa hat ihm erzählt, was sie mit den drei Utensilien machen werden: Heute wird Johannes seinen ersten Drachen bauen.
Zurück im Haus des Großvaters sitzt der Neunjährige ungeduldig auf seinen vier Buchstaben und rutscht hin und her. Akribisch beobachtet er jeden Handgriff seines Mentors. Erst teilt er die Tapetenleiste in vier Stücke. Dann schneidet er ein Segel aus dem Packpapier aus und befestigt die Tapetenleisten als Kreuz in seinem Rücken. Anschließend bindet er die Packkordel fest um das entstandene Kreuz. Und dann entsteht eine Flugschnur. „Lass ihn fliegen“, sagt der Opa zum Enkel. Johannes kann den nächsten Tag kaum abwarten, der eine ganz neue Leidenschaft in ihm entfachen wird.
„Gleich am Morgen eilte ich auf den höchsten Berg, den ich in der Umgebung sichten konnte, und versuchte, meinen Drachen zum Fliegen zu bringen“, erinnert sich der heute 81-Jährige. „Aber das Einfliegen des Drachens ist genauso eine Philosophie wie der Bau. Man muss so viele Regeln beachten. Diese kannte ich damals natürlich noch nicht.“ In der Selbststudie versucht der Junge geduldig, sein Spielzeug in die Lüfte zu heben. Er knotet kleine Grasbüschel an den Drachen, experimentiert damit, seinen Schwerpunkt zu ändern. Probiert unterschiedliche Steigewinkel aus und überdenkt immer wieder seine Herangehensweise. „Es war für mich ein wunderschönes Spielzeug. Ich hatte es selbst gebaut und in der Nachkriegszeit war es eines der wenigen Dinge, die wirklich mir gehörten“, erklärt er. „Ich verbrachte die gesamten Herbstmonate auf dem Berg und tüftelte.“ Und irgendwann wird sein Engagement belohnt: Der kleine, braune Papierdrachen gleitet sanft in den Himmel. „Sie können sich nicht vorstellen, wie bedeutsam dieser Moment ist“, erklärt er aufgeregt. „Könnten wir die Gesichter der Drachenführer einfangen, wenn ihr Drache zum ersten Mal steigt, hätten wir einen Bildband purer Freude. Das ist ein unglaubliches Gefühl.“ Kann er seine Faszination damals nicht in Worte fassen, weiß er doch, dass er nie wieder vergessen wird, wie sich diese Empfindung anfühlt.
Es ist das Jahr 2020. Johannes Tophoven und seine Frau Uschi sitzen in ihrem Wohnzimmer in der Nähe des Krefelder Stadtwalds. In Erwartung des Besuchs des CREVELT Magazins haben sie etliche Drachen um sich herum ausgebreitet. Ob aus Seide, mit wunderschönen Applikationen und Pinselstrichen verziert, aus Servietten und in Miniaturform oder eher verspielt aus Papier und mit Blumen beklebt – der Vielfalt sind keine Grenzen gesetzt. „Einige haben wir extra aus dem Drachenarchiv in Neuss geholt“, schildert Johannes Tophoven andächtig. „Wissen Sie, wir mögen es bodenständig. Die kunstvollen Drachen sind ein Hobby, aber die meisten haben wir in unserem Leben aus einfachem Papier gemacht.“ Wenn Tophoven von der Herstellung „seiner“ Drachen spricht, dann meint er eigentlich die, die er mit unzähligen Kindern in Krefeld und am Niederrhein und Menschen in ganz Deutschland gebastelt hat. Denn Johannes und Uschi Tophoven sind mit 81 und 80 Jahren heute so etwas wie die Pioniere des Drachenbaus, mehr als 7.000 Stück können sie inzwischen zählen. „Der Drachenbau hat mich mein ganzes Leben begleitet“, erklärt der Krefelder. „Nach meinem Erlebnis im Harz habe ich immer wieder Drachen gebaut und als ich älter wurde, versucht, mit Literatur alle Informationen rund um die Drachen aufzusaugen. Aber dann kamen das Berufsleben und auch die Familie.“
Viele Jahre lang wirkt das Ehepaar als Herrenausstatter. Mit eigenen Geschäften in Krefeld und Essen verbringen die beiden viel Zeit in der Selbstständigkeit. Gleichzeitig werden ihre Kinder geboren, ein Junge und ein Mädchen. Die Drachen kommen vor allem in den Ferien zum Einsatz, in ruhiger Umgebung, zum Beispiel in einem Urlaub in Dänemark. Ingo, der Sohn des Ehepaars, und sein Freund klagen über Langeweile. Johannes zieht damals David Pelhalms Buch „Drachen“, die Bibel des Drachenbaus, aus dem Reiserucksack und ruft einen Wettbewerb aus: Die Jungs sollen beide einen eigenen Drachen bauen. Wer den Drachen länger in der Luft halte, werde mit einer Kompaktkassette belohnt.
Erst basteln die Kinder in Eigenregie, dann lernen sie vom Profi, denn beim Drachensteigen gilt es, fünf Schritte einzuhalten. „Zum Drachenbau gehört das Einfliegen des Drachens immer dazu“, betont Tophoven. „Das ist mir so wichtig. Denn, wenn der Drache nicht steigt, weil der Drachenführer nicht weiß, wie es geht, dann vergeht die ganze Freude und wird durch Enttäuschung ersetzt. Das müssen wir unbedingt vermeiden.“ Und dafür gibt Tophoven eine einfache Anleitung.
Erstens: Ein Drache braucht ein baumloses, freies Gelände mit ein bisschen Wind. Zweitens: Der Drachenführer muss immer mit dem Rücken zum Wind stehen. Drittens: Während der Drachenführer die Schnur vom Brettchen abrollt, entfernt sich ein Helfer mit dem Drachen in der Hand rund sechs Meter. Viertens: Auf Kommando lässt der Helfer den Drachen los und der Drachenführer bewegt sich langsam gegen den Wind nach hinten, so, wie beim Start eines Flugzeuges. Fünftens: Bei leichtem Wind steigt der Drachen nun, bei starkem Wind hat er keine Chance. Und bei Windstille muss der Drachenführer besonders gut nachhelfen. Ingos Drache steigt in Dänemark natürlich in die Luft. Kein Wunder, er hat ja auch den besten Lehrer.
Als Uschi und Johannes Tophoven in Rente gehen, haben sie endlich auch außerhalb des Urlaubs Zeit für ihr Hobby. Sie lassen sonntags Drachen beim Spaziergang auf Krefelds Feldern steigen, widmen sich Nachmittage der Seidensegelgestaltung und geben auch erste Workshops in Schulen. „Und dann begann die Zeit vom ‚Spiel ohne Ranzen‘“, erinnert sich 80-Jährige. „Das brachte unseren Drachenbau noch einmal auf ein neues Level.“ Fast 20 Jahre lang begleitet das Ehepaar die Sommerferienaktion und schon viele Wochen vor dem Event fiebern etliche Krefelder Schulkinder aufgeregt daraufhin, endlich wieder einen neuen Drachen für die eigene Sammlung zu erschaffen.
Die Tophovens nehmen ihre Verantwortung sehr ernst, ihr Anspruch: Jedes Kind, egal ob an den Bastelutensilien geschickt oder in den Fingern noch recht ungelenk, soll am Ende des Tages einen Drachen zum Steigen bringen. Johannes Tophoven orientiert sich dabei in jedem Jahr am gleichen Vorbereitungsritual: Das internationale Drachenfestival auf Fanø in Dänemark nutzt er, um in Ruhe zu basteln und Modelle für das „Spiel ohne Ranzen“ auszuprobieren. „Ich ließ meine Drachen über Tage steigen und da sie ja für Kinder konzeptioniert waren, waren sie oft klein und nicht sonderlich auffällig“, erinnert er sich. „Während meine Kollegen immer höher, weiter und größer wollten, und ihre Drachen schon während des Festivals die Köpfe hängen ließen, thronten meine noch am Festivalabend im Himmel. Der Drache muss fliegen, das ist das allerwichtigste.“
Mit ihrem Konzept wird das Ehepaar so erfolgreich, dass es nicht nur diverse Kinder in Krefeld verzaubert, sondern auch bundesweit gefragt ist. Einmal, so schildert Johannes Tophoven, sei er in der JVA Hamburg eingeladen gewesen, um mit Häftlingen, die kurz vor der Entlassung stehen, und ihren Familien, Drachen zu basteln und sie in die Höhe steigen zu lassen. „Auch hier hat es jeder Drache in den Himmel geschafft“, sagt er stolz. „Bei den Erinnerungen bekommen ich heute noch eine Gänsehaut. Der Kontrast war unglaublich: Die eingesperrten Häftlinge, die ihren Drachen hinter Gittern in die Freiheit steuern.“
Wenn Tophoven heute über die Faszination des besonderen Fluggeräts spricht, verändert sich sein Blick. Fehlten ihm als Kind die Worte, verbinden sie sich jetzt zu einem riesigen Wortschwall, der nur darauf wartet, losgelassen zu werden und auf Nachfrage nur so aus dem Mund des 81-Jährigen hervorschießt. „Jeder Drache ist anders. Mit der Gestaltung können wir unserer Persönlichkeit Ausdruck verleihen. Außerdem die Technik. Wissen Sie, sowohl der Bau als auch das Einfliegen sind so komplex. Hier müssen alle Zahnräder ineinandergreifen“, schildert er während sich sein Ton erneut verändert. „Ja und dann ist da natürlich noch die Geschichte. Machen Sie sich klar, dass Tausende Drachen im asiatischen Raum die Himmel eroberten, bevor es auch nur ein einziges Flugzeug gab. Ein Drache ist nicht einfach nur ein Spielzeug, er ist so viel mehr.“
Auf Johannes Tophovens ausdrücklichen Wunsch, weisen wir darauf hin, dass jedes Elternteil, jeder Onkel und jede Tante, jede Großeltern im Internet Erklärungen dafür finden, wie Sie mit einfachsten Mitteln und in kürzester Zeit einen Drachen mit ihrem Schützling bauen können. Geben Sie dafür zum Beispiel auf YouTube „Drachen bauen Anleitung“ ein.
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