Das Gefühl, das eigene Potenzial nicht voll auszuschöpfen und das Leben zu versäumen: Wahrscheinlich kennen es die meisten Menschen, deren Alltag zwischen Arbeit und Zubettgehen vor allem aus Routinen besteht. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, dieses Gefühl und die Angst, die damit verbunden ist, zu stillen: Man sucht sich ein Hobby, in das man viel Energie hineinsteckt, betätigt sich sportlich oder geht auf Reisen. Auch Sascha Stöckl fühlte eines Tages diese nagende Leere – und wie so viele vor ihm suchte auch er sein Heil zunächst im Sport. Doch er ging noch viel, viel weiter. Oder besser: Er radelte.
Sein Buch „Mit dem Hut um die Welt“ ist soeben im Kempener Verlag L100 erschienen und Sascha weilt in Krefeld, um geeignete Locations für Lesungen zu finden. Er trägt seinen breitkrempigen Hut, dem das Buch den Titel verdankt, sowie Cargohose und Abenteurerhemd, an denen man den Globetrotter erkennt, der weit abseits der ausgetretenen Pfade unterwegs ist. Das Fahrrad hingegen hat er heute zu Hause stehen lassen, denn das bereitet in hiesigen Bahnen nur Schwierigkeiten, wie er amüsiert berichtet. Kein Problem, mit dem er sich lange aufhält: Er ist kurzerhand auf den E-Scooter ausgewichen, ein Luxus, den er sich auf seinen Reisen eher nicht gönnt. So weit und so langsam wie möglich zu reisen, am besten, ohne dabei Geld auszugeben: Mit dieser Philosophie und sparsamem Gepäck ist der gebürtige Moerser mit dem Fahrrad von Barcelona bis in den Iran gefahren, vom Iran bis ans Nordkap, per Anhalter von der Türkei nach Indien und wieder zurück und von Moers zu Fuß bis zur Zugspitze. Außerdem ist er auf dem Drahtesel durch die arabische Rub-al-Chali geradelt, die größte Sandwüste der Welt. Aktuell bereitet er sich auf sein nächstes Abenteuer vor: Mit einem Freund möchte er von Marokko aus über das Atlasgebirge bis in die Westsahara wandern. Es gibt noch viel zu erleben und zu sehen, so viele Geschichten, die darauf warten, in einem seiner ledergebundenen Tagebücher notiert zu werden. Dabei begann Saschas Leben alles andere als abenteuerlich.
1987 wird er in vergleichsweise bescheidene Verhältnisse hineingeboren: Der Vater ist Stahlarbeiter, die Mutter Hausfrau, in den Sommerferien geht es mit schöner Regelmäßigkeit an die Nordsee. „Aus Deutschland rausgekommen bin ich erst später, als Jugendlicher“, lacht Sascha. Nach der mittleren Reife absolviert er eine kaufmännische Ausbildung und arbeitet dann im Vertrieb eines großen Telekommunikationsunternehmens. Das Narrativ des jungen Träumers, der in einem langweiligen Bürojob gefangen ist, verdichtet sich, doch Sascha verneint entschieden: „Ich mochte es sehr, im Verkauf zu arbeiten, das hat mir schon Spaß gemacht. Ich habe gut verdient, bin ein schönes Auto gefahren … Aber ich hatte trotzdem irgendwann das Gefühl, das etwas fehlt.“ 2014 beginnt er deshalb, Marathon zu laufen: Ohne große Vorbereitung, getrieben nur von seinem eisernen Willen, geht er an den Start. Das Gefühl, die Herausforderung gemeistert zu haben, beflügelt ihn, aber nach zehn Langstreckenläufen wird auch das zur Routine, also läuft Sascha kurzerhand auf eigene Initiative einen Ultramarathon von Moers nach Frankreich: „Ich hatte kein Geld dabei, habe mich, wenn ich müde war, einfach zum Schlafen an den Streckenrand gelegt“, erinnert er sich. Den ersten Schritt zu seinem neuen Leben macht er 2017: Zur Vorbereitung auf ein 24-Stunden-Radrennen fährt er mit dem Fahrrad ins Verzasca-Tal in der italienischen Schweiz, wo er einen Bungee-Sprung vom berühmten Staudamm macht. Die Erfah-rung dieser Reise verändert alles: „Als ich wieder zu Hause war, habe ich mein Auto verkauft, meinen Job und meine Wohnung gekündigt“, erzählt er, als sei es die einfachste Entscheidung der Welt gewesen.
Im Gespräch mit Sascha rauschen die Namen exotischer Ländern an einem vorbei wie Leitpfosten an der Autobahn, unvorstellbare Distanzen werden innerhalb von Halbsätzen überwunden, monatelange Märsche schrumpfen zu gemütlichen Spaziergängen. Aber Sascha betreibt kein Namedropping, es steckt keine Aufschneiderei hinter seinen Geschichten. Seine Reisen nach dem Motto „Je langsamer, umso besser“ haben seinen Blick auf die Welt, das Leben und sich selbst grundlegend verändert. Dinge, die anderen unmöglich erscheinen, hat er gemacht. Einfach so. Kein Wunder, dass er in sich selbst ruht, selbstbewusst und entspannt, aber niemals abgeklärt. Er hat sich seine Neugierde und Offenheit bewahrt, denn er weiß, dass das Besondere, Unerwartete überall lauert. Man muss nur offen dafür sein. „Ohne die Hilfe anderer Menschen wäre das, was ich mache, nicht möglich“, gesteht er freimütig. „Ich bin darauf angewiesen, dass mir Menschen, die ich auf meinem Weg treffe, ihre Unterstützung anbieten.“ Die Verständigung in Ländern wie dem Iran, Aserbaidschan, Tschetschenien, dem Oman oder Saudi-Arabien funktioniert selten auf Englisch, aber ganz oft mit Händen und Füßen. „Ich habe gelernt, dass ,Verstehen‘ meist ,Verstehen wollen‘ bedeutet. Wer einem helfen möchte, lässt sich von der Sprachbarriere nicht davon abhalten.“ Oft sind es unglaubliche Zufälle, die das Zusammentreffen mit der richtigen Person begünstigen: „Nachdem ich die Rub al-Chali mit dem Fahrrad durchquert hatte, meldete sich mein Reifen mit dem unmissverständlichen ,Pffft‘. Ich stand mitten im Nichts mit einem platten Reifen. Wenig später fuhr ein Wagen der saudischen Polizei an mir vorbei. Die Polizisten luden mich zum Fastenbrechen ein, einer üppigen Mahlzeit, die wir allein in der Wüste einnahmen. Anschließend fuhr einer von ihnen 400 Kilometer bis zum nächsten Ort und wieder zurück, um mir einen neuen Fahrradschlauch zu besorgen. Geld wollte er nicht von mir, aber ich musste ihm versprechen, ein Bild von uns mit dem Schlauch bei mir zu Hause aufzuhängen. Und das habe ich gemacht.“
Auch an seinem Tiefpunkt, als er kurz davor steht, alles hinzuschmeißen und seine ehrgeizigen Reisepläne aufzugeben, ist es eine Zufallsbegegnung, die ihm Mut macht und ihn zum Weitermachen inspiriert. „In Italien regnete es wie aus Eimern, ich war komplett durchnässt und fand keinen guten Platz zum Übernachten. Schließlich campierte ich völlig frustriert auf einer Verkehrsinsel, fest davon überzeugt, alles falsch zu machen und für diese Art zu Reisen doch nicht geeignet zu sein.“ Doch dann gesellte sich Janis zu ihm, ein Radreisender aus Lettland. „Er hörte sich meine Sorgen an und erzählte mir von seinen Erlebnissen. Und er machte mir klar, dass all die Probleme, die mich frustrierten, ein Teil meiner Reise waren.“ Als Andenken an die wegweisende Begegnung trägt Sascha eine hölzerne Rune um den Hals, die Janis ihm als Geschenk überließ. Sie fungiert seitdem als Mutmacher in aussichtslosen Momenten. Und es ist schon erstaunlich, mit wie wenig dieser junge Mann so weit gekommen ist: „Ich habe auf meinen Reisen weder eine EC- noch eine Kreditkarte dabei. Wenn es gar nicht anders geht, transferiert mir ein Freund Geld, das ich bei ihm hinterlegt habe.“ Sascha entwickelt Improvisationsgeist und Erfindungsreichtum: Die Abdeckung eines Ventilators, die er findet, dient ihm als Grillrost. Er sammelt Obst und Gemüse auf, das von Lastwagen fällt.
Um sich zu finanzieren, nimmt er Jobs an, arbeitet auch schon einmal als Schauspieler, etwa in Indien. „Für einen Werbespot brauchte man dort einen weißen Europäer. Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort“, lacht er. Wie er diese Geschichten immer wieder aus dem Ärmel schüttelt, ahnt man, wie viele davon in ihm schlummern müssen. Teilweise sind sie haarsträubend: Er berichtet von der nächtlichen Fahrradfahrt über die hunderte von Metern hohen Dünen der Rub al-Chali, von der überlebensnotwendigen Versorgungsstation, die es einfach nicht mehr gab, von Schusswechseln syrischer Milizen oder einem Unwetter, das ihn auf dem Gipfel des Vesuvs überraschte. Momente, die ihm zwar Angst machten, aber ihn von seinem Vorhaben niemals abbringen konnten.
Sogar die große Liebe läuft ihm auf seinen Reisen über den Weg. Als er im Iran als Deutschlehrer arbeitet, begegnet er Kiana, die sich mit einem Deutschkurs auf das Medizintechnikstudium bei uns vorbereitet. „Für junge Menschen und insbesondere für Frauen sind die Verhältnisse im Iran sehr schwierig. Sie träumen davon, nach Deutschland zu kommen und hier zu arbeiten“, weiß er. Wie grausam dieses Regime zu Frauen ist, hat Sascha ebenfalls hautnah erfahren: „Auf meiner ersten Reise durch das Land traf ich eine Bauchtänzerin, die mit mir in die Türkei reiste. Man muss wissen, dass es Frauen im Iran untersagt ist, als Bauchtänzerinnen zu arbeiten. In der Türkei erhielt sie einen Anruf ihrer Mutter: Die Polizei war bei ihr gewesen, hatte nach ihr gesucht, um sie zu verhaften. Sie musste sich am Telefon von ihrer Mama verabschieden. Wenn sie in ihre Heimat zurückkehrt, riskiert sie, ins Gefängnis gesteckt zu werden, bloß, weil sie ihrem Hobby nachgeht.“ Kiana hat sich den Traum von einem neuen, freien Leben in Deutschland hingegen mittlerweile erfüllt: Sie ist in der gemeinsamen Wohnung in Duisburg der Leuchtturm, zu dem Sascha immer wieder zurückkehrt. Aus dem Reisen macht sie sich nicht so viel – und das ist vielleicht auch ganz gut so: „Sie erdet mich“, sagt er lächelnd.
Die Frage, ob er denn immer noch diese Leere fühle, beantwortet er fast ein bisschen erleichtert mit Nein. „Ich weiß, dass ich mir eines Tages auf dem Sterbebett keine Vorwürfe machen werde“, schmunzelt er. Sogar ein Lebensabend in einem deutschen Reihenhäuschen erscheint ihm heute wieder denkbar. „Wer weiß schon, was passiert“, zwinkert er. „Alles ist möglich.“ Wider Erwarten sind es nicht die beeindruckenden Landschaften oder Sehenswürdigkeiten, die ihm dieses tiefes Gefühl der Zufriedenheit spenden und die Leere vertrieben haben: „Es sind die Menschen“, sagt er. „Die Begegnungen mit Menschen ganz unterschiedlicher Kulturen, die sich für mich Zeit genommen und Interesse an mir gezeigt haben, die mir geholfen haben, obwohl ich ein völlig Fremder für sie war.“ Von dieser Offenheit für andere könnten wir in Deutschland viel lernen, ist er überzeugt. Beim Verfassen seines Buches, einer Abschrift seiner Tagebuchaufzeichnungen, war es ihm dennoch sehr wichtig, keine Anleitung zu liefern. „Jeder Mensch muss seinen eigenen Weg finden“, sagt er. „Um nichts anderes geht es.“ Beim Reisen wie im Leben.
Sascha hat uns 5 Exemplare seines Buches „Mit Hut um die Welt“ zur Verfügung gestellt. Wer eines davon haben möchte, schreibt bis zum 31. Oktober eine E-Mail mit dem Betreff „Weltreise“ an redaktion@crevelt.de.
Sascha Stöckl: Mit Hut um die Welt
L100 Verlag
324 Seiten
ISBN: 978-3-947984-21-3
20 Euro
Telefon: 028 42 – 92 75 40
E-Mail: sascha.stoeckl@mithutumdiewelt.de
www.mithutumdiewelt.de
Lesungen
Mittwoch, 23. Oktober, 18:30 Uhr
Kloster Kamp
Abteiplatz 13
47475 Kamp-Lintfort
VVK: 10 EUR
Donnerstag, 21. November, 18:30 Uhr
flüssig & kostBar
Niederstr. 39
47829 Krefeld
Eintritt: 15 EUR (inkl. Freigetränk)
Fotos: Felix Burandt und Ali Fakhari