Editorial

Liebe CREVELTer,

„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“, das schrieb der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein. Er verlieh damit einer Erkenntnis Ausdruck, die das Denken im 20. Jahrhundert auf den Kopf stellte: Unser Verständnis der Welt ist an unsere Sprache geknüpft. Wir denken immer in Sprache: Demzufolge erkennen und verstehen wir auch nur das, was wir sprachlich erfassen können. Oder auch andersherum: Die Begriffe, die wir haben, prägen wesentlich unser Denken.

Unser Gegenüber zu verstehen, heißt demnach, seine Sprache zu sprechen. Jede Sprache folgt eigenen Regeln, die in direktem Zusammenhang mit der Lebenswirklichkeit stehen, in der sie gesprochen wird. Deshalb lassen sich sprachliche Feinheiten auch nur selten eins zu eins in eine andere Sprache übersetzen. Eine andere Sprache zu erlernen, befähigt uns dazu, uns in Menschen anderer Kulturkreise zu versetzen und die Welt durch ihre Augen zu sehen. Es erweitert unser Verständnis der Welt. Für uns ist das weiße Zeug, das im Winter leider viel zu selten vom Himmel fällt, schlicht Schnee. Ein Inuit, für dessen Leben Schnee eine viel größere Bedeutung haben dürfte als für uns, wird sehr wahrscheinlich deutlich feinere Unterschiede erkennen und demnach auch benennen können. Schnee ist für ihn eben nicht einfach „Schnee“. Die Erkenntnis, dass Sprache unser Denken formt, ist auch der Ausgangspunkt für die heute so heftig tobende Diskussion um problematische Begriffe. Es macht durchaus Sinn, sich von Ausdrucksweisen zu verabschieden oder sie zu ächten, wenn sie unseren Blick auf die Welt einschränken oder gar verfälschen. Vor allem dann, wenn das zum Leidwesen von Minderheiten geschieht.

Man muss aber gar nicht nach Alaska oder nach Fernost reisen, um an Sprachgrenzen zu stoßen. Unser Oktober-Hero Wolfgang Müller, der sich mehr als die Hälfte seines Lebens mit dem Krieewelsch Platt auseinandergesetzt hat, weiß, dass es schon zwischen Hüls und Fischeln markante sprachliche Unterschiede gibt. Und dass Krieewelsch nicht einfach nur ein schön klingender Dialekt ist, sondern auch eine bestimmte Art, die Welt zu sehen. Globetrotter Sascha Stöckl wird bestätigen, dass der Kontakt mit anderen Kulturen augenöffnend ist: Aber auch, dass es ein sprachübergreifendes Verständnis zwischen Menschen gibt. Auch ohne die jeweilige Landessprache zu sprechen – oder auf das nahezu universell funktionierende Englisch zurückgreifen zu können – gelang es ihm, sich in Ländern wie dem Iran, in Saudi-Arabien, Aserbaidschan oder Tschetschenien zu verständigen. Die Erkenntnis, die er mitbrachte: „Verstehen ist immer auch Verstehenwollen“. Und der Anti-Gewalt-Trainer Marco Rhode weiß nur zu gut, dass Gewalt meist da anfängt, wo die Verständigung versagt.

Was das bedeutet? Gesellschaft und Gemeinschaft funktionieren immer nur im Dialog miteinander und jeder Dialog muss darauf gegründet sein, den anderen verstehen zu wollen: sein Denken für den Augenblick zu dem unseren zu machen, die Welt mit seinen Augen zu sehen. Man muss danach nicht einer Meinung sein, aber zumindest hat man eine gemeinsame Grundlage für die Diskussion geschaffen, anstatt nur aneinander vorbeizuschreien. Lasst uns in Dialog miteinander treten! Einen Dialog, der das Ziel hat, Grenzen aufzulösen, statt Mauern hochzuziehen!

Wir wünschen eine angenehme und vielleicht sogar erkenntnisreiche Lektüre – oder auch einfach: Viel Spaß beim Lesen!

Ihr Michael Neppeßen, David Kordes & Torsten Feuring

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